Dieser Film ist ein Exzeß. Eine Tour de Force. Ein Ereignis. Man könnte auch fünfzehn Mal hintereinander einfach „Kino“ schreiben. Immer mit drei Ausrufezeichen. CARLOS – DER SCHAKAL ist ein ganz großer Wurf!
Und um es gleich zu sagen: Es ist unbedingt empfohlen, die sich bietenden Gelegenheiten zu nutzen und sich die Triptychon-Fassung dieses Werkes anzuschauen. Also diese exorbitanten 333 Minuten, nach denen man das Kino mit einer Mischung aus Erschöpfung und Euphorie verläßt. Mit diesem Gefühl, einer Anstrengung beigewohnt zu haben, die – versprochen! – in keiner Sekunde dieser fünfeinhalb Stunden als Anstrengung spürbar wird. Denn CARLOS – DER SCHAKAL nimmt einen tatsächlich in eine Art Geiselhaft, deren Anspannung sich erst lange nach dem Ende des Films verflüchtigt.
Illich Ramirez Sánchez, bekannt als Carlos, war der Top-Terrorist der 70er und 80er Jahre. Ein skrupelloser Killer, ein effizienter Manager politischer Gewalt. Ein linker Terror-Dandy, der sein auf Schweizer Konten gehäuftes Vermögen bei Parties in Luxushotels verpraßte, eine Vorliebe für teuren Whisky und schöne Frauen pflegte. Ein Mann, der erst mit dem moralischen Selbstverständnis des revolutionären Weltverbesserers seine Amoralität und Gewalttätigkeit legitimierte. Und beides mit den Jahren gewinnträchtig diversen Geheimdiensten antrug. Der selbsternannte Revolutionär, der zum Terror-Dienstleister wurde. Und den als verfettetes und versoffenes Wrack im Sudan das unrühmliche Ende seiner Terroristenkarriere ereilte.
Der französische Regisseur Oliver Assayas formte aus dieser Biographie eine Art recherchierte Spekulation. Eine Imagination reinsten Realismus’. Und ein Zeitgemälde, eine Mentalitätsanalyse des Kalten Krieges. Aber wie er das macht! Mit welchem Tempo der Film eine Atmosphäre latenter Gewalt ausbreitet, wie akkurat er seine Figuren exponiert. Wie hier allein in den ersten zehn Minuten die Schauplätze wechseln zwischen Paris, Beirut, London, dabei ein Netzwerk aufzeigend, in dessen Mitte zunehmend sich dieser eine Mann plaziert: Carlos, der Schakal.
Der nun wird gespielt von Édgar Ramirez. Und ohne die ganzen Phrasen von „physischer Präsenz“ abzusondern, muß man einfach erwähnen, wie Ramirez sich dieser Rolle auch körperlich anverwandelt hat. Der inneren folgt die äußerliche Verrottung: Vom Sex-Appeal des smarten, durchtrainierten Terrorismus-Beau, hin zum übergewichtigen, geilen Bock, der sudanesischen Prostituierten hinterhersteigt.
Und doch ist CARLOS vor allem ein Ensemble-Film. Mit einem schier ausufernden Figurengeflecht, über das Assayas indes nie den Überblick verliert. Zumindest nicht, um darauf zurückzukommen, in der Langfassung. Denn zu konstatieren gilt: In der auf 190 Minuten gekürzten regulären Kino-Variante gelingt dieses Fresko nicht in jedem Fall so eindrücklich. Nicht nur, daß da wichtige Nuancen zwangsläufig verloren gehen. Daß etwa die fiebrige Schilderung des 1975er Anschlags auf das OPEC-Hauptquartier in Wien fast die Länge eines separaten Films einnimmt, fügt sich in der Extended Version wunderbar in den Erzählrhythmus. Bei 190 Minuten beginnt der mitunter etwas hektisch zu hyperventilieren.
Freilich, großes Kino bleibt das immer noch. Und ja – warum eigentlich nicht sich einfach beide Fassungen ansehen?
Originaltitel: CARLOS
F/D 2010, 190/333 min
FSK 16
Verleih: NFP
Genre: Action, Thriller, Gangster
Darsteller: Edgar Ramirez, Nora von Waldstätten, Alexander Scheer, Christoph Bach, Julia Hummer, Jule Böwe, Katharina Schüttler, Anna Thalbach
Regie: Olivier Assayas
Kinostart: 11.11.10
[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.