7 Bewertungen

Casting

Sie küssen und sie schlagen sich

Man weiß ja doch so manches, ahnt zusätzlich so einiges, und darüber hinaus gibt es Dinge, die man sich kaum vorstellen mag – eben, was so alles hinter den Kulissen von Filmdrehs abgehen kann. Welch’ menschliche Entgleisungen, welch’ künstlerische Extravaganzen und welch’ moralische Abscheulichkeiten sich ihren Weg bahnen, davon mochte man sich bisher kaum ein Bild machen.

Glücklicherweise erzählt Nicolas Wackerbarth in seinem Film CASTING davon – mit genauem Blick, feinpinseliger Charakterzeichnung und im Zeigen aller gebotenen Hinterfotzigkeit, die sich an die Luft wagt, wenn übergroße Egos aufeinanderkrachen, wenn kleinkrämerische Seelen Unzulänglichkeiten weglärmen, wenn Könner auf Zögernde stoßen, wenn bewährt Gutes in gewagt Neues gewandelt werden soll, kurzum: Ein Film soll gedreht werden. Die im filmischen Bereich wenig erfahrene Theatertante Vera hat Vorstellungen, wie ihre Fassbinder-Adaption von DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT geraten soll, es sind keine klaren Vorstellungen, eher so vage, mäandernde, sich stetig ändernde, widersprechende, will sagen: Die Frau hat eigentlich keinen Plan. Und will daher mal so ein bißchen was anderes probieren!

Spätestens da ist man im Bilde, bereits bestens amüsiert, und wenn dann der einzige Könner auf der Bühne, Gerwin nämlich, ausgerechnet nur als Anspielpartner im Plan ist, dann freut man sich auf das, was kommt: Schauspieler müssen gecastet werden, Unstimmigkeiten allernorts, der koproduzierende Sender quatscht rein, aufgeregte Männer mit Tüchern überm Doppelkinn und Ordnern unterm Arm tauchen auf und gehen ab, alternde Diven mit ihren knochigen Hälsen fordern Tribute. Stutenbissigkeit, Größenwahn, vergiftetes Lob und Heulattacken lösen einander ab.

Wackerbarth ist aber klug genug und neigt nicht zur austeilenden Gehässigkeit (dafür sorgen die Protagonisten schon selbst), vielmehr gelingt es ihm, quasi im doppelsinnig künstlerischen Prozeß, Unzulänglichkeiten, Sehnsüchte, Ängste, Überforderungen und Überhöhungen derart klug herauszuziselieren, daß man begeistert mit den Augen an den allesamt großartigen Schauspielern klebt. Es ist bitter und urkomisch zugleich, wenn gestandene Aktricen an ihre Unantastbarkeit gemahnen, sie Gerwin zur „Anspielwurst“ runtermachen, und sich alle dabei entblößen in ihrer Furcht vorm Scheitern, Zukurzkommen, Zurückgewiesenwerden. In diesem brüllkomischen und (manchmal peinlich) berührenden Improvisationsmeisterstück gelingt es Wackerbarth wie nebenher, auch von der Krux des deutschen Films zu erzählen, eben dann, wenn er aufzeigt, wie fehlende Courage, das Breitmachen ewiger Kompromißbereitschaft und dieses Dauerreinquatschen von Redakteuren noch jeden Funken an Idee, Wahnsinn und Kreativität zum Erlöschen bringen und das deutsche Kino somit immer wieder zu Beliebig- und Mutlosigkeit verdammen. Und gleichsam beweist Wackerbarth mit seinem geradezu furios aufspielenden Ensemble, was wir für Schauspieler haben! Wenn sie nur dürften, wenn man sie nur ließe wie zu Fassbinders Zeiten, wenn man für sie nur Rollen ersinnen würde wie in Frankreich beispielsweise für die Huppert und die Deneuve, den Cassel und den Depardieu ...

CASTING ist eine aberwitzige, dabei tiefblickende Spiegelung moderner Verlogenheit, abwechselnd von köstlichstem Witz und beschämender Boshaftigkeit, der Film entlarvt das Kapriziöse, die Arroganz und Überheblichkeit und gemahnt zeigefingerfrei an moralische Standards. Das ist ziemlich viel für einen einzigen Film, doch Wackerbarth ist es gelungen, undogmatisch, in höchstem Maße unterhaltsam in den Nukleus eines Berufsstandes zu blicken, dem zuzuschauen größte Freude macht, auch wenn man nicht aus der „Branche“ kommt.

D 2017, 91 min
FSK 0
Verleih: Piffl

Genre: Komödie, Satire

Darsteller: Andreas Lust, Judith Engel, Andrea Sawatzki, Corinna Kirchhoff, Marie-Lou Sellem, Victoria Trauttmansdorff

Regie: Nicolas Wackerbarth

Kinostart: 02.11.17

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.