„Something Is Wrong Here!“ Diese pointiert gesetzten vier Wörter skizzieren leitmotivisch Attitüde und Charakter, eine verkackte Situation oder eben auch ein halbes Leben. Das von Cheyenne, ein müder, sich langweilender Rockstar, der seine besten Jahre hinter sich hat, deren Spuren aber bleiben. Cheyenne ist ein lakonischer Kauz, der so weit weg vom modernen Leben scheint, dann aber in Aktien macht und sich nebenher wundert, daß heutzutage keiner mehr arbeitet, sondern alle kreativ sind. CHEYENNE – THIS MUST BE THE PLACE – die Geschichte eines schrägen Vogels also, und das wäre doch auch schon genug für einen Film.
Aber was klassisch als Porträt eines merkwürdigen, in seiner Schrulligkeit liebenswürdigen Typen beginnt, kulminiert in einer überlebensgroßen Identitätssuche, in einem Geschichtspuzzle, in einem Erwachen. Daß dieses sich mit allerhand Überraschungen entfaltende, beinahe übergroße Konstrukt nicht zusammenbricht, noch nicht einmal wackelt, und daß dem Zuschauer im Nachgang vielleicht noch mehr Fragen gestellt als beantwortet werden – das spricht für Paolo Sorrentinos Werk, von dem schon jetzt gesagt werden darf, daß es sich nicht nur um einen der intelligentesten Filme des Jahres handelt. Es rührt auch an, wie ergeben und dennoch in Eigenart winkende Grüße an Wenders’ PARIS, TEXAS oder Lynchs THE STRAIGHT STORY und andere gern gesehene Freunde aus der Film- und Pophistorie verschickt werden. Großer Vorschuß, klar, aber zu Recht!
Ein Mann schminkt sich, doch bleibt der Vorhang zu, keine ausverkaufte Travestienummer, kein Rockspektakel, Cheyenne macht sich fertig, um in den Supermarkt zu gehen, Magazine durchzublättern, mit seiner Frau Pelota im leeren Pool zu spielen. Rein optisch ist er in den 80ern hängengeblieben, im Windschatten von Robert Smith, noch immer wird er beim Einkaufen erkannt, wenn er sich wieder eindeckt mit Tiefkühlpizzen, die er in geradezu sketchhafter Kulisse – er bewohnt ein schloßartiges Anwesen – mit seiner weitaus geerdeteren Frau verspeist. Cheyenne wagt schon den Blick nach draußen – und ekelt sich davor. Was man verstehen kann, wenn Hohlbirnen wie Jamie Oliver im Fernsehen über das Geschlecht der gleich zu verkochenden Karotte philosophieren. Doch da wir im Kino sind (wenngleich man diesem Typen nur zu gern stundenlang bei scheinbar stupiden Tätigkeiten zuschauen und – im Original – auch zuhören mag), braucht es einen Ausbruch. Und den liefert ausgerechnet der Typ, von dem Cheyenne behauptet, er habe ihn nie geliebt: sein Vater. Über 30 Jahre haben sie sich nicht gesehen, nun fliegt dieser Exot 5.000 Kilometer von Dublin nach New York – um ihn zu beerdigen. Andere hätten damit abgefrühstückt, bei Sorrentino ist dies der Auftakt zu einem Befreiungsschlag, Prolog zu einem sonderbaren Roadmovie, wobei sich nun im Leben des Misanthropen alles dreht. Cheyenne reist durch die USA, um zu verstehen, um einen bestimmten Menschen zu finden, um Rache zu nehmen. Für seinen Vater!
Von Irland in die Staaten, von spontaner Lippenstiftberatung in die Hölle des Holocaust – CHEYENNE ist ein unglaublicher Film über Veränderung, über das Abarbeiten von Ängsten und das Aufzeigen von Schuld. Und welches Land böte da bessere Voraussetzungen als die USA, ein Ort voller Unklarheiten, Vertuschungen und Lügen. Und wunderbarer Menschen, von denen auch Cheyenne einige in teils skurrilen, aberwitzigen Situationen trifft. Den Erfinder des Rollkoffers zum Beispiel, oder auch eine junge Frau, die Interesse an ihm zeigt. Doch Cheyenne kann nicht – nicht nur, weil sie die Enkelin eines Nazis ist, nicht nur, weil er seiner Frau treu ergeben ist, es wäre einfach zu viel für einen wie ihn.
Und wenn am Ende Cheyenne noch immer dieses kleintierartige Lachen lacht, wenn die Frisur sich auch ändern mag, und die Mode es ihr gleich tut, dann bleiben doch vier Wörter auf Lebenszeit, als geradezu philosophische Erkenntnis auf den Irrsinn des Lebens: „Irgendwas stimmt hier nicht!“
Originaltitel: THIS MUST BE THE PLACE
I/F/Irland 2011, 118 min
FSK 12
Verleih: DCM
Genre: Roadmovie, Tragikomödie
Darsteller: Sean Penn, Frances McDormand, Harry Dean Stanton, David Byrne
Regie: Paolo Sorrentino
Kinostart: 10.11.11
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.