Originaltitel: CLOSE
Belgien/F/NL 2022, 104 min
FSK 12
Verleih: Pandora
Genre: Drama, Erwachsenwerden
Darsteller: Eden Dambrine, Gustav de Waele, Émilie Dequenne, Léa Drucker
Regie: Lukas Dhont
Kinostart: 26.01.23
Und dann begibt es sich an manchen Tagen, da geht nach dem letzten Bild und dem wirklich letzten Ton der rote Vorhang zu und einem wird ganz schwarz vor Augen. Man weiß nicht recht und will es nicht wissen, ob man nach dem Heulen noch lächeln darf, ob man gerade wirklich einen schönen Film gesehen hat, wo er doch auch tragisch ist, weh tut und dann vor allem so gut. Könnte sein, nach CLOSE ist man überzeugt davon, gerade das erste Mal in einem Kino gewesen zu sein. Könnte sein, man geht gerade deshalb bald wieder hin.
Genügt es eigentlich noch, dem wachen Filmfreund ein pures „Hingehen!“ zuzurufen? Ihn dringlichst dazu einzuladen, genau jetzt mit dem Lesen dieser Zeilen und anderer mehr oder weniger einschlägiger Informationen aufzuhören? Wie die Jungfrau zum Kinde zu kommen? Es wäre so zauberhaft. Und ist so illusorisch. Aber den Versuch muß es heute wert sein.
Für jene, die noch da sind: CLOSE folgt auf GIRL. Der Belgier Lukas Dhont hat beide Filme als Regisseur und zusammen mit Angelo Tijssens als Drehbuchautor erschaffen. Zweifach geht es um dieses so gräßliche Wort Pubertät, doch nein, es geht ja nicht ums Wort, sondern um das, was dahinter in allen möglichen Spektralfarben leuchtet und droht. Das kindliche Spiel, langsam ausgeblendet. Die Entdeckung anderer Körper und des eigenen. Das Abgleichen mit dem Draußen, das Emanzipieren von der Nötigung, das Scheitern, ein Ausweg. GIRL und CLOSE erzählen auch vom Vakuum der Rüttelzeit mit 15 oder 13. Hier steckt ein Mädchen im falschen Jungen, will tanzen und schafft es, dort sind es zwei Freunde, die sich so nah sind, wie man sich nur nah sein kann in diesem Alter. Léo und Rémi sind keine wilden Rabauken aus der Großstadt, sie würden dort verkümmern. Ländlich geht es zu, wo sie leben, in Verstecken noch Ritter spielen und gegen Heerscharen gewinnen, wo man im Blütenmeer der Felder ertrinken kann oder, wie Léos Familie, seinen Lebensunterhalt damit verdient. Unbeschwert geht es zu. Doch auch das ist ein so hinterhältiges Wort.
Léo und Rémi sind. Sie buchstabieren nicht, was sie ausmacht. Liegen eng beieinander, tollen mit Müttern in Wiesen herum, denken nicht daran, daß das alles mal erschüttert werden oder gar enden könnte, öffnen gegenseitig ihre Seelen, lassen tief blicken. Rémi spielt Oboe, Léo hört ihm zu. Vielleicht versteht er noch nicht, was sein Freund da aus dem Instrument herausholt, doch er ist ein treuer, großäugiger Zeuge. CLOSE eben. Den beiden zuzuschauen, mutet an wie eine Feingeisterbeschwörung.
Wie heftig muß der Anlaß sein, um dem anderen so richtig weh zu tun? Es gibt keine Maßeinheit dafür. Ein paar dumme Sprüche in der Schule, noch eher neckend aus dem Mund gerutscht, anstatt wirklich bös’ und fies und vernichtend gemeint, genügen. Ein irritierendes Gefühl, das ins Herz kriecht. Dein Zögern, mein Fragen. Dann ist es nicht mehr das gemeinsame Bett, sondern die Matratze auf dem Fußboden. Dann rasen die Fahrräder morgens eben nicht mehr nebeneinander auf dem Feldweg. Dann wird es die einsame Eishockeymontur anstelle der imaginären Ritterrüstung zu zweit. Dann wird es Verrat. Wo er beginnt, liegt auch im Ermessen des Einzelnen.
Unfaßbar, wirklich höllisch schwer zu beschreiben, wie die jungen Gustav De Waele und – er muß es noch viel länger leisten – Eden Dambrine die direkte Kamera von CLOSE aushalten, ja, ausschalten. Wie sie die Zärtlichkeit des Regieblicks transformieren, diese überaus komplexe, feinporige, physische wie poetische Geschichte annehmen und im Verbund mit den professionellen „Alten“, denen allein aufgrund von reduzierten Spielminuten alles andere als leichte Rollen übertragen werden, agieren. Wuchtig auch die Konsequenz und Unabdingbarkeit, mit der Dhont als 31jähriger seine Geschichte bis zum authentischen Trost des Endes zu erzählen und zu choreographieren vermag.
Goldene Palme in Cannes, OSCAR vielleicht – die Filmwelt schwärmt. Dabei geht es vor allem um jene manchen Tage im Kinoalltag. Tage, an denen es nur Gewinner gibt.
[ Andreas Körner ]