Originaltitel: BOZE CIALO
Polen 2019, 116 min
FSK 16
Verleih: Arsenal
Genre: Drama
Darsteller: Bartosz Bielenia, Aleksandra Konieczna, Eliza Rycembel
Regie: Jan Komasa
Kinostart: 03.09.20
Spätestens seit den Coen-Brothers sollte der Vorspannspruch „Nach wahren Begebenheiten“ weniger ernst genommen werden. Das Pech in FARGO war trotzdem universell. Und was hat die echte Welt nicht schon an falschen Malern, getürkten Ärzten und scheinfaden Journalisten gesehen! Für CORPUS CHRISTI bedient sich Regisseur Jan Komasa ebenfalls der Begebenheitszeile. Es schadet nicht.
Der neue Pfarrer kann seine Schäfchen für sich und Gott wirklich einnehmen. Skeptische Blicke halten sich in der ländlichen Gemeinde nicht lange, dort, wo die Alten bibelfest am guten Glauben hängen und die Jungen mit ihrem Zögern hadern, nach dem Zwischenschritt des Zweifelns den nächsten hin zur Abkehr vom starren Katholizismus nicht zu wagen. Ein Priester ihres Alters jedenfalls, der mit zum Joint und Bierchen greift und weiß, wie Rap funktioniert, könnte Entscheidendes bewirken. Daniel bewirkt es. Nur kann nicht sein, was nicht sein sollte. Das Sägeblatt ist winklig zu führen, und zwar über die gesamte Länge. Stramme Sitten herrschen in der Werkstatt, deren Jungensluft – könnte Kino riechen – von Schweiß, Span und Zigarettenatem gesättigt vor sich hin müffelt. Verläßt der Meister den Raum, werden die Sitten noch rauher, landet das Gemächt eines Auserwählten schon mal in der Werkbank. Fiese Ränkespiele im Jugendknast. Daniel kennt sie seit Jahren, doch seine Tage dort sind gezählt.
Hell leuchtet Daniels Stimme, wenn er als Meßdiener zu singen beginnt und sich das Leuchten auf sein Inneres überträgt. Daniels Glaube ist ausgerechnet hier gewachsen. Könnte er Priester werden, wenn er das Abitur nachholen würde, fragt er den Gefängnispfarrer. Kein Priesterseminar nehme Straftäter auf, lautet die Antwort. Taten und die Strafe liegen hinter Daniel, wie sein drittes Lebensjahrzehnt beginnen wird, ist diffus. Die Beschäftigung in einem auswärtigen Sägewerk soll eine erste Antwort geben. Daniel fährt hin, doch er landet – in der Kirche.
Es ist nicht nur das nächste, mithin packende polnische Kinostück, das sich die Rolle des Glaubens auflädt, um sie zu hinterfragen. Wieder geht es zuvorderst um ein Menschenschicksal, so wie schon IM NAMEN DES …, DIE MASKE oder IDA mit mutigen Blicken, inszenatorischer Kraft und starken Figuren samt Schauspielern zu überzeugen wußten. Es ist der Gang auf einem schwierigen Weg, hier ist er in aufregender Weise bewältigt. Daniel ernennt sich selbst zum Priester, lügt sich eine Ausbildung in Warschau zurecht, springt für den alkoholsüchtigen Pfarrer ein, das Gewand hat er ja bei sich. Wie man eine Beichte abnimmt, steht in der App. Eine Messe zu halten, Menschen zu taufen, vor ihrem letzten Atemzug zu begleiten oder des Bürgermeisters Flurstücke zu segnen, alles Handwerkszeug dafür zieht er bewundernswert schnell aus sich selbst. Auch dem größten Zerwürfnis im Dorf zu begegnen, ist Daniel gegeben: Trauerbewältigung nach einem Autounfall vor Jahren, bei dem junge Menschen starben und die Ehefrau des noch immer nicht beerdigten Verursachers seitdem Spießruten läuft.
Das Herz von CORPUS CHRISTI schlägt heftig. Daß sich genau das ins Kino übertragen kann, gehört längst zu den wahren Begebenheiten.
[ Andreas Körner ]