Originaltitel: L’ÉVÉNEMENT
F 2021, 100 min
FSK 12
Verleih: Prokino
Genre: Drama, Literaturverfilmung
Darsteller: Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet Klein, Sandrine Bonnaire
Regie: Audrey Diwan
Kinostart: 31.03.22
Ein Verbrechen wird in diesem Film begangen werden. Denn im Frankreich des Jahres 1963 galt eine Abtreibung, falls die Justiz sie zur Kenntnis bekam, als Straftat. Wer also wie Anne, die Protagonistin dieser Ein-Frau-Studie, die ungeplante Mutterschaft verweigerte, wer einer wie ihr mit Abortmitteln oder Stricknadeln, mit Verständnis oder als kopfschüttelnder Mitwisser zur Seite sprang, stand auch mit einem Bein im Gefängnis. Und doch: Mit aller, mit trotziger Entschlossenheit macht sie sich schuldig im Sinne der zu befürchtenden Anklage. Aber was, außer einer Täterin nach dem Strafrecht von 1963, ist Anne noch?
Anne ist zunächst das fiktionalisierte Alter Ego der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux. 2000 veröffentlichte Ernaux die retrospektive Schilderung ihres Abtreibungs-„Vorfalls“, der sich Anfang der 60er Jahre „ereignete“: literarisch gefaßte Erinnerungen an ein fast vier Dekaden altes Selbst in den rechtlichen und gesellschaftlichen, kessen und keuschen Koordinaten der Zeit. Historischer Stoff also, angenehm weit entfernt, ins Vergangene wegpoetisiert? Nein. In Audrey Diwans Romanadaption wird dieses Selbst gleichermaßen sinnlich-konkreter wie überzeitlicher weiblicher Körper, auf den von Innen und Außen immerzu enorme Kräfte wirken. Eine unauffälligauffällig schöne junge Frau, der man so nahe kommt, daß ihr Nackenflaum zum Greifen scheint. Eine talentierte, auch ambitionierte Literaturstudentin mit rätselhafter Stirn. Dahinter eine nur zu ahnende Gedankenwelt, in der Victor Hugo und Jean-Paul Sartre mit dem Küchendunst einer bescheidenen Herkunft, den riesigen Erwartungen der provinziell-kantigen Eltern und den begehrenden Blicken halbgrüner Männer durcheinanderpurzeln mögen. Und ihr eigenes Begehren? Anne muß sich und ihm wohl nachgegeben haben. Einmal, zweimal? Wer wollte das nachzählen, jetzt, da es eh zu spät ist?!
Als DAS EREIGNIS 2021 in Venedig den Goldenen Löwen gewann, erklärte sich die internationale Kritik einverstanden. In den lobenden Vokabeln aber blieben Widersprüche. Radikal einfach? Aufregend komplex? Daß beides stimmt, daß sich hier Angst und Mut, Versteinertes und Weiches, Gestaltetes und Rohes, Schulterzucken und Händeringen im selben Bild begegnen, macht diesen Film ungewöhnlich – und auf eine ungekünstelte, sich der moralischen Ereiferung entziehende Weise dringlich.
[ Sylvia Görke ]