Schleppen Sie sich täglich mit Unwillen zur Arbeit, weil der Boss ein Widerling ist? Dann kommen Sie doch ins Callcenter von „Multiple Italia“: Hier schreibt Chefin Daniela jeden Morgen „Du bist toll!“-Nachrichten, gibt es Motivations-Singsang, und wird allmonatlich die beste Mitarbeiterin gekürt, welche sich dann doll über genau das nutzlose Haushaltsgerät freut, welches sie vertickt. Bei so viel Zuwendung stört es doch nicht, daß quotenschwache Kollegen als „Verlierer“ verhöhnt und rausgeworfen werden, oder?
In dieses heimelige Betriebsklima stolpert Marta, eine Philosophiestudentin mit Summa cum laude auf der Suche nach einem Job, und steigt zur Starverkäuferin auf. Aber irgendwann regt sich das Gewissen, woran ein feuriger Gewerkschaftsaktivist nicht unwesentlich Anteil trägt. Die Callcenter-Welt zeigt Risse, hinzu kommen Martas Zweifel an ihrer Beziehung, eine kranke Mutter und natürlich das aufrüttelnde Telefongespräch mit einer alten Dame ...
Was diese zwischen die Augen jeder Ausbeuterfirma treffende Satire besonders macht, sind – neben Höllentempo, fiesen Sarkasmen sowie anrührenden Intermezzi – primär die so hinreißend gespielten wie facettenreichen Figuren: Wenn Marta das Callcenter nutzt, um einem Knochenjob aus Promoviertensicht auf die Spur zu kommen, schwingt eine gewisse Ich-bin-besser-Haltung mit. Daniela, als Leiterin sadistisch, privat aber ein armseliges Hascherl, kann man bloß bedauern. Besagter Gewerkschafter vereint Idealismus und sämtliche emotionalen Defizite eines Bilderbuch-Mannes. Et cetera.
Etwa 90 Minuten lang gefällt das Unterfangen also mehr als gut. Aber irgendwas hat die Macher vor dem Finish gepackt, und zwar etwas wenig Erbauliches. Plötzlich kochen die Emotionen nicht nur hoch, sondern über, und wer jemals einen Pulk wütender Italiener live erlebt hat, kann sich eine angemessene Vorstellung des zu Ertragenden machen: Da wird wüst gehampelt, und menschliche Kommunikation findet kaum mehr statt, weil sich alle bloß zu überbrüllen suchen, wenigstens in der Originalfassung.
Eine geschlagene halbe Stunde geht das so und schnell auf den Nerv, zumal auch die Handlung jedes Augenmaß verliert, es gar zu völlig albernem Mord und Totschlag kommt. Deswegen als Rat: Verlassen Sie sofort nach Sonias Ausbruch auf dem Parkplatz das Kino. Denn dann liegt der ganze Abend noch entspannt vor Ihnen.
Originaltitel: TUTTA LA VITA DAVANTI
I 2008, 117 min
FSK 6
Verleih: Movienet
Genre: Komödie, Drama, Satire
Darsteller: Isabella Ragonese, Micaela Ramazzotti
Regie: Paolo Virzì
Kinostart: 18.03.10
[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...