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Das Herz ist ein dunkler Wald

Medea in der Vorstadt

Zum Anfang entwirft Nicolette Krebitz mit wenigen, ungeheuer exakt beobachtenden Szenen ein hyperrealistisches Bild des ganz normalen Familienalltags. Der Vater Thomas bringt das Geld nach Hause und ist selten da, die Mutter Marie, hat ihren Job für die Kinder aufgegeben. Die Stimmung ist gespannt, Marie ist eifersüchtig auf Thomas’ Freiheit, und er ignoriert die Probleme und flieht. In Rückblenden, besser rückblickhaften Szenen in neutraler Bühnenumgebung (das Setting erinnert an Veiels DER KICK) werden frühere Auseinandersetzungen der beiden beleuchtet, aus denen sich ein Kaleidoskop einer komplexen Beziehung zusammensetzt.

Durch einen Zufall entdeckt Marie, daß ihr Mann ein Doppelleben führt und nicht weit entfernt eine zweite Familie hat. Ihre Welt bricht zusammen, hin- und hergerissen zwischen Wut, Verzweiflung und Angst sucht sie nach einem Ventil für ihre Emotionen. Das Gefühl des Betrogenseins ist so absolut, daß Maries Kategorien-system schließlich davor kapituliert. Sie gerät in Situationen, in denen sie sich nicht entscheiden kann, welcher Logik sie folgen soll: die der getäuschten und betrogenen Frau, die toben und wüten will oder die der Mutter, die ihre zwei Kinder schützen will. Marie kämpft verzweifelt um ihr bisheriges Leben, obwohl sie immer deutlicher spürt, daß auch sie nicht glücklich war und in gewisser Weise auch all die Jahre ein Doppelleben geführt hat.

Spätestens hier beginnt die Surrealität mit Macht in ihr Leben (und in den Film) einzusickern. Wenn alles, was vorher richtig war, auf einmal falsch ist, verschwimmen auch die Grenzen zwischen Realität und Traum. Nina Hoss läßt ihre Marie nach und nach immer tiefer hinab gleiten in eine eigene, uneinnehmbare Realität. Selbst ein leibhaftiger Christus, der vor ihren Augen vom Kreuz steigt, nötigt ihr kaum ein Wimpernzucken ab. Als Marie ihren Mann endlich zur Rede stellt, braucht sie eigentlich schon keine Antworten mehr ...

Nicolette Krebitz ist mit ihrem Film das Kunststück gelungen, einen tragischen Stoff, der einer altgriechischen Tragödie angemessen wäre, in all seinen widersprüchlichen Ausformungen als alltägliche Katastrophe zu skizzieren. Sie verschränkt dabei Realismus und Surrealismus auf eine ungewöhnliche, verspielte Weise, die man so im deutschen Film bisher nicht gesehen hat.

D 2007, 86 min
Verleih: X Verleih

Genre: Drama, Experimentalfilm, Liebe

Darsteller: Nina Hoss, Devid Striesow, Franziska Petri, Marc Hosemann, Monica Bleibtreu, Otto Sander, Angelika Taschen, Günther Maria Halmer

Stab:
Regie: Nicolette Krebitz
Drehbuch: Nicolette Krebitz

Kinostart: 27.12.07

[ Luc-Carolin Ziemann ] Carolin hat ein großes Faible für Dokumentarfilme, liebt aber auch gut gespielte, untergründige Independents und ins Surreale tendierende Geschichten, Kurzfilme und intensive Kammerspiele. Schwer haben es historische Kostümschinken, Actionfilme, Thriller und Liebeskomödien ... aber einen Versuch ist ihr (fast) jeder Film wert.