D 2022, 98 min
FSK 12
Verleih: Alamode
Genre: Drama
Darsteller: Leonie Benesch, Rafael Stachowiak, Eva Löbau
Regie: Ilker Çatak
Kinostart: 04.05.23
Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, sagt ein Sprichwort. Und die junge Lehrerin Carla Nowak ist fest entschlossen, alles richtig zu machen. Erst seit kurzem unterrichtet sie eine 7. Klasse an einem Gymnasium in Mathematik und Sport. Ihren Schülern begegnet sie dabei auf Augenhöhe und setzt in ihrem Umgang mit ihnen auf teambildende Maßnahmen statt auf konfrontative Autorität. Im Kollegium allerdings macht sie sich mit ihrem Übereifer nicht unbedingt beliebt. Noch ist Carla unberührt von der Desillusionierung und Frustration vieler Lehrerinnen und Lehrer, die schon länger dabei sind. Als es an der Schule zu Diebstählen kommt, stößt ihr Idealismus zum ersten Mal an Grenzen.
Die junge Lehrerin ist empört, als ihre Kollegen zu grenzwertigen Mitteln greifen, um den Langfinger zu erwischen. Doch wird sie wenig später aus einem Impuls heraus selbst einen äußerst fragwürdigen Schritt gehen, um die Sache aufzuklären. Es folgt eine Beschuldigung. Ob sie zu Recht oder Unrecht geschieht, bleibt offen.
Regisseur ?lker Çatak, der bereits mit den originellen Arbeiten ES WAR EINMAL INDIANERLAND und ES GILT DAS GESPROCHENE WORT sehr positiv auffiel, ist nicht an vermeintlichen Sicherheiten interessiert. Stattdessen ist DAS LEHRERZIMMER die so punktgenaue wie packende Studie einer Eskalation, die, einmal in Gang gekommen, wie eine unaufhaltsame Lawine über alle Beteiligten – Lehrkräfte, Schülerschaft, Eltern – hinwegrollt. Dabei ist jede Figur aufrichtig in ihren Intentionen und verständlich in ihrem Handeln. Und trotzdem (oder gerade deshalb?) nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Dabei drohen die schwächsten Glieder der Kette unter die Räder zu kommen: die Kinder.
Das erinnert in seiner Präzision und Ambivalenz an die komplexen Dramen des Iraners Asghar Farhadi. Wer ist schuld? Niemand. Alle. Und doch mündet dieser ethische Graubereich nicht in moralische Beliebigkeit. Als Carla ihren Fehler bemerkt, versucht sie, die wild trampelnde Herde der wohlfeilen Empörung wieder einzufangen, die sie ungewollt losgelassen hat. Aber sie ist schon über alle Berge. Die Lehrerin versucht trotz allem, integer zu bleiben und sich den Konsequenzen ihres Handelns zu stellen. Aber ihre Aufrichtigkeit bleibt ungewürdigt und von den meisten auch unbemerkt. Vielmehr irritiert es ihre Mitmenschen, daß hier jemand nicht nur an die eigene Haut denkt. Carlas zunehmende Beklemmung wird durch einen Score aus atonalen Streicherklängen unterstrichen. Und die Kamera zeigt die Protagonisten meist in den engen, vom Herbstlicht nur spärlich erhellten Räumen der Schule.
DAS LEHRERZIMMER ist jedoch nicht in erster Linie eine Kritik am Schulwesen. Vielmehr ist Schule hier eine Chiffre für ein System, dem Menschen sich nur schwer entziehen können – mit all seinen Licht- und Schattenseiten. Jeder hat hier seine genau abgesteckte Rolle zu spielen, der Raum für freie Interpretation ist begrenzt. Das erfährt auch Carla schmerzhaft. Daß man mit ihr in jeder Sekunde mitfiebert und mitleidet, liegt vor allem an der phantastischen Leonie Benesch. In ihren großen, ausdrucksstarken Augen spiegeln sich alle Nuancen ihrer Figur. Carla versucht ihre Gefühle meist kontrolliert unter dem emotionalen Deckel zu halten und bemüht sich in einer Mischung aus Ehrgeiz, Rigorismus und Anstand stets um eine korrekte Haltung, auch wenn ihr das im Handlungsverlauf zunehmend schwerer fällt.
Verdientermaßen wurde Benesch für diese herausragende Leistung als European Shooting Star auf der Berlinale 2023 ausgezeichnet und ist für den Deutschen Filmpreis als „Beste Hauptdarstellerin“ nominiert. Doch auch alle anderen Ensemblemitglieder agieren auf Augenhöhe, insbesondere die jüngsten Darsteller beeindrucken. Die Kinder sind hier keine Unschuldsengel, sondern eigenständige Persönlichkeiten mit Ecken und Kanten. Allerdings – und das ist die unmißverständliche Botschaft des Films – bleiben sie auf der Strecke, wenn die Erwachsenen ihrer Verantwortung nicht nachkommen und sich stattdessen in ihren eigenen Befindlichkeiten verstricken.
[ Dörthe Gromes ]