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Das Mädchen, das die Seiten umblättert

Fesselndes Protokoll einer unerbittlich ausgetragenen Revanche

Das konnten die Franzosen schon immer am besten: diese beunruhigenden, fast beiläufig erzählten und dabei so streng in den Stein einer Chronologie des Unaufhaltbaren ziselierten Geschichten über Vergeltung. Da bleibt der späte Chabrol unerreicht, doch auch Denis Dercourt versteht sich exzellent auf das Inszenieren eines gottlob anämischen, dafür psychologisch stimmigen Films über eine ganz profunde Rache.

Deren Grundstein wurde in Melanies Kindheit gelegt. Das Mädchen ist zehn Jahre alt und hochbegabt, als sie zum Vorspielen antritt, um sich für das Konservatorium zu qualifizieren. In der Jury sitzt die berühmte Pianistin Ariane Fouchécourt. Melanie ist angespannt, spielt fehlerfrei, bis Ariane einen Fan zu sich läßt, um ein Autogramm zu gewähren. Das ist respektlos, das ist narzißtisch, das bringt Melanie aus dem souveränen Spiel, sie vertut sich an den Tasten. Das " ...die Nächste bitte!" der Jury ist messerscharf, und als Melanie hinaus läuft und Tränen fließen, da weiß man längst: mit diesem Kummerfluß bahnt sich Rache ihren Weg.

Schnitt. Melanie ist mittlerweile 20 und heuert bei einer Anwaltskanzlei als Praktikantin an. Diese Kanzlei gehört einem sehr erfolgreichen Advokaten, einem gewissen Monsieur Fouchécourt. Melanie übernimmt auch die Betreuung seines Sohnes Tristan und trifft so auf Ariane. Sie verstehen sich, und als Ariane mitbekommt, daß die junge Frau vom Klavierspiel viel versteht, bittet sie Melanie, ihre Seitenumblätterin bei einem wichtigen Konzert zu sein. Der Auftritt wird zu einem Erfolg, und in einem überraschenden Moment gibt Melanie der Pianistin einen Kuß. Der entscheidende Schritt, um ein Leben aus dem Gleichgewicht zu bringen ...

Natürlich weiß Dercourt um die Niederträchtigkeit einer jeden Vergeltung, deshalb läßt er sein einst unschuldiges Opfer sich ebenso ein Geschöpf der Unschuld für seinen unerbittlichen Plan auswählen: Tristan, auch er ein echtes Talent, wird von Melanie am Klavier hart getriezt, was für seine kindlichen Gelenke reines Gift sein wird. Doch Dercourt streut noch subtilere Toxine, die verdeutlichen, wie tief Einschnitte während der Kindheit ein Leben prägen können. Dercourt zeigt das fesselnde, still ausgetragene Duell zweier ungleicher Frauen, ein Protokoll verletzter Gefühle, ein Zeugnis unausgeloteter Abhängigkeiten. Melanies Eltern sind einfache Menschen, die sich als Fleischer verdingen. Das inspirierte Dercourt zu einem wunderbar Bildspiel - das Chabrol-Freunde erkennen werden - in dem er sinnliches Klavierspiel an Szenen aus der Fleischerei koppelt.

Zur Besetzung noch ein Wort. Da Isabelle Huppert schließlich nicht alle interessanten Frauenrollen belegen kann, entschied sich Dercourt für Catherine Frot. Eine vorzügliche Wahl, weil Frot neben ihrem unbestrittenen komischen Talent endlich die schwierigste Facette einer Figur ausspielen konnte: von Eitelkeit übertünchte Schwäche - ohne Theatergestus. Formidable! Die Entdeckung des Films ist die junge Aktrice Déborah François, die erstmals in L’ENFANT auffiel. Ihr gehört der Film, ihr kühles Lächeln aus blassem Gesicht läßt einem Schauer über den Rücken laufen. Von dieser Mischung aus kindlicher Innozenz und aufreizender Erotik weiß doch jeder, daß sie Unheil verkündet.

Originaltitel: LA TOURNEUSE DE PAGES

F 2006, 85 min
Verleih: Alamode

Genre: Drama, Schwul-Lesbisch

Darsteller: Catherine Frot, Déborah François, Pascal Greggory

Regie: Denis Dercourt

Kinostart: 03.05.07

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.