Man vergißt das schnell, hier in der westlichen Welt: Welche utopische, emanzipatorische Kraft der Kunst im allgemeinen und dem Kino im speziellen innewohnt. Ein Beweis für diese Tatsache, die so hingeschrieben etwas abstrakt und auch pathetisch klingen mag, ist dabei immer auch das Mißtrauen der jeweils Mächtigen gegen die Kunst, gegen das Erzählen. Im „Erzählen“, im „Zeugnis ablegen“, im Imaginieren ruht ja ein Potential, das politisch auch dann ist, wenn es das Erzählte selbst a priori nicht ist.
Es ist das berühmte Diktum Jean-Luc Godards, daß es nicht darum ginge, politische Filme zu machen, sondern politisch Film zu machen, das einem einfallen mag, sieht man jetzt Haifaa Al Mansours DAS MÄDCHEN WADJDA. Ist dieser Film doch schon politisch allein ob des Umstands, daß er der erste ist, der je in Saudi-Arabien produziert wurde. In einem Land also, in dem nicht nur die öffentliche Vorführung, sondern auch das Drehen von Filmen verboten ist. Eine explizit „politische“ Geschichte ist da schon gar nicht mehr nötig.
Wadjda ist zehn Jahre alt und lebt mit ihrer Mutter in einem Randbezirk von Riad. Der Vater ist nur seltener Gast zu Hause, denn seit klar ist, daß Wadjdas Mutter keine Kinder mehr bekommen kann, ist der Kerl unter anderem davon in Anspruch genommen, eine Zweitfrau zu suchen, die den männlichen Stammhalter gewährleistet. Eine Normalität in Saudi-Arabien, weshalb auch das Leiden von Wadjdas Mutter daran eine Normalität ist, die die Tochter mit weitgehender Gleichmut reflektiert. Zumal Wadjda mit ihren eigenen Problemen beschäftigt ist. Träumt sie doch von einem Fahrrad. Ein Traum, dessen Erfüllung in einem Land, in dem es Mädchen und Frauen neben unzähligen anderen Dingen auch verboten ist, Fahrrad zu fahren, eine Unmöglichkeit darstellt. Allerdings nicht für Wadjda.
Das Unmögliche möglich machen. Ein Mädchen, das mit dem Fahrrad durch Riad fährt. Und eine Regisseurin, die davon erzählt. Mit einem Film, den es eigentlich nicht geben dürfte. Unter welch’ absurden, Guerilla gleichen Umständen er dennoch entstand, ist selbst schon wieder ein Filmstoff. Eine Farce, von der Kunst, die die Tugendwächter austrickst. Ähnlich Wadjda, die zielstrebig der Erfüllung ihres Traumes entgegenarbeitet, indem sie auch schon mal fleißig Suren paukt. Was sonst wahrlich nicht ihr Ding ist, aber ein hochdotierter Koran-Wettbewerb könnte die Kohle bringen, die es ja erst mal braucht, um ein Fahrrad zu kaufen.
Al Mansour erzählt das ganz nah bei ihrer einnehmenden Heldin. Die Innenschau eines restriktiven, theokratischen Gesellschaftssystems entfaltet sich durch die Augen eines Kindes und garantiert der Geschichte somit eine Leichtigkeit, die nur an der Oberfläche naiv aufscheint. Es ist eine Tarnfarbe, eine, wenn man so will, Verschleierung. Aber gerade der unschuldige (unpolitische) Blick eines Kindes eröffnet die Dimension jener gesellschaftlichen Enge und Engstirnigkeit, gegen die sich hier das Individuum, das sich seine Träume nicht nehmen läßt, positioniert. Darin liegt eine Utopie, von der dieser Film bei aller formalen Unzulänglichkeit kündet. Kino und Mädchen, die Fahrrad fahren, als Entäußerungen eines Freiheitswillens, gegen den Theokraten und Diktaturen auf Dauer keine Chance haben.
Originaltitel: WADJDA
Saudi-Arabien/D 2012, 97 min
FSK 0
Verleih: Koch Media
Genre: Drama, Polit
Darsteller: Waad Mohammed, Reem Abdullah, Abdullrahman Al Gohani
Regie: Haifaa Al Mansour
Kinostart: 05.09.13
[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.