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Das schlafende Kind

Vom Westen unberührt

Irgendwo in der marokkanischen Wüste laufen festliche Vorbereitungen: Dorfbewohnerin Zeinab wird heute heiraten. Doch die herrschenden Traditionen sind verkrustet, Frauen müssen sich ihnen fügen. Was bedeutet, daß die junge Braut stundenlang unbeweglich wartet, nicht einmal zur Toilette gehen darf.

Auch sonst hat Zeinab wenig Grund, sich über die Vermählung zu freuen. Wie fast alle anderen Männer wird ihr Gatte schon am nächsten Tag nach Europa reisen, um dort sein Glück zu suchen. Die Zeiten im Dorf sind hart, das Wetter vernichtet jede Ernte. Und zu allem Überfluß stellt die künftige Ehefrau auch nur zu bald fest, schwanger zu sein – eine Unmöglichkeit! Wie soll sie das Kind ohne Mann aufziehen? Ihre strenge Mutter weiß Rat und setzt diesen machtbewußt durch: Der Fötus soll im Körper eingeschläfert und erst nach Rückkehr des Gemahls wieder aufgeweckt werden. Ein Plan, den Halima, eine selbstbewußte und gegen die starren Strukturen kämpfende Freundin Zeinabs, auf keinen Fall gut heißen kann ...

Es fällt formal betrachtet überraschend leicht, dieser bizarr anmutenden Geschichte zu folgen. Sämtliche Darsteller, fast ausschließlich Laien, agieren höchst authentisch, wunderbare Landschaftsaufnahmen gewähren eine klare Vorstellung von den geographischen Gegebenheiten. Auch intelligente Visualisierungen nehmen den Zuschauer gefangen. So dient die Farbe Rot beispielsweise immer wieder zur Abbildung von Einsamkeit oder Schmerz, identifiziert unter anderem ein rotes Kleid Halima treffend als Fremdkörper innerhalb der dörflichen Gemeinschaft. Und nicht nur die Inszenierung einer Waschung als Schattenspiel zeugt eindrucksvoll vom ästhetischen Blick einer Frau auf dem Regiestuhl.

Trotzdem ist es zum inhaltlichen Begreifen unbedingt nötig, sich von westlichen Denkstrukturen und Sehgewohnheiten zu lösen. Heißt: Wer Überlieferungen und sehr spezielle Rituale als Budenzauber betrachtet, zählt definitiv nicht zur Zielgruppe. Dann nämlich bleibt nur eine eigenartige Mixtur aus Folklore, Drama sowie Mystizismus in Erinnerung. Was schade wäre, weil dabei weitere Einflüsse – wie allgemeingültige Wahrheiten und Szenen großer weiblicher Solidarität – völlig untergingen.

Originaltitel: L’ENFANT ENDORMI

Marokko 2004, 95 min
Verleih: Kairos

Genre: Drama

Darsteller: Mounia Osfour, Rachida Brakni, Nermine Elhaggar, Fatna Abdessamie, Khamsa Abdessamie

Stab:
Regie: Yasmine Kassari
Drehbuch: Yasmine Kassari

Kinostart: 21.09.06

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...