So könnte eine Krimihandlung aussehen: Eine 18jährige Afrikanerin wird tot am Kanal gefunden, in einer brachliegenden wallonischen Industrieregion. Niemand kennt sie, niemand hat sie gesehen. Nur die Aufnahme einer Überwachungskamera bestätigt, daß sie vor der Tat noch an der Tür einer benachbarten Arztpraxis geklingelt hat. Die junge Ärztin, Jenny, die dort eigentlich nur eine mehrwöchige Vertretung macht, gibt an, das Klingeln zwar gehört zu haben. Doch es war schon eine Stunde nach Praxisschluß und sie gerade in einem ernsten Gespräch mit ihrem Praktikanten. Da die Polizei scheinbar untätig ist, recherchiert Jenny (zunächst aus schlechtem Gewissen, dann aus einer Art Berufung) selbst nach der Identität der Toten und stößt auf mehrere Personen aus ihrem Patientenkreis, aber auch auf Zuhälter und Freier, die etwas zu verbergen scheinen. Um dem Milieu möglichst nah zu sein, übernimmt sie die Praxis in der schlechten Gegend nun ganz und zieht dort ein. Kurz: Jenny ist eine früh berufene Miss Marple.
Genau so erzählen die Dardenne-Brüder das aber natürlich nicht. Wie so oft konzentrieren sie sich auf eine einzige Perspektive: die von Jenny. Die Handlung, gewohnt nüchtern und präzise inszeniert und dem jeweiligen Augenblick verhaftet, besteht aus ihren Arztvisiten und täglichen Handgriffen. Die ärztliche Diagnose ist der Türöffner zu den Menschen und ihren individuellen Geschichten. Die drehen sich um existentielle und moralische Fragen, für die Jenny aus Verantwortungsgefühl – und nicht aus kriminalistischem Spürsinn – eine Art Ausgleich schaffen will.
Was sie genau antreibt, wissen wir nicht, wir können nur in den Gesten und in der Mimik von Adèle Haenel lesen, mit der die Dardenne-Brüder wieder einmal eine charismatische Schauspielerin an die richtige Stelle gesetzt haben. Nichts ist so geheimnisvoll wie ihr selten ans Tageslicht findende Lächeln. Langsam wird klar: Das unbekannte Mädchen aus dem Titel ist Jenny selbst.
Charakter- und Milieustudie in einem, stellt der Film damit den Krimi eigentlich auf den Kopf. Während es heute zum guten Ton eines Krimis gehört, die Handlung mit sozialen Konflikten anzureichern, generiert hier der soziale Konflikt die Handlung. Das kriminelle Motiv und damit die Schuldfrage weichen der Analyse der Verhältnisse. Natürlich ist das Dardenne-Kino ein zutiefst moralisches, schon immer gewesen. Und auf diesem Feld macht den Brüdern weiterhin niemand etwas vor.
Originaltitel: LA FILLE INCONNUE
Belgien/F 2016, 106 min
FSK 6
Verleih: Temperclay
Genre: Drama, Krimi
Darsteller: Adèle Haenel, Jérémie Renier, Olivier Gourmet, Fabrizio Rongione
Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne
Kinostart: 15.12.16
[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...