Wenn man in der weiten Kinolandschaft alle paar Jahre einem Film von Michael Haneke begegnet, ist das wie ein spätes Nachhausekommen – vertraut und doch fremd, herbeigewünscht und doch gefürchtet. Immer hat Haneke das Heimweh nach intellektueller Schärfe trösten können, und immer war die Furcht begründet, daß der Hausherr einen mit gezücktem Messer empfängt. Wo aber ist dieses Zuhause, in das wir einmal mehr eingeladen sind? Wien oder Paris, Kafkas Schloß oder Jelineks Alpträume? Beletage oder literarisch codiertes Souterrain? Haneke scheint seinen Hauptwohnsitz stets im gedanklichen Zentrum des nächsten Films zu nehmen, die Möbel umzuräumen und die Bilder umzuhängen.
Zur neuen Adresse stellt er uns einen ortskundigen Begleiter an die Seite. Ein Dorfschullehrer, der im imaginären „Eichwald“ seine erste Liebe und viele rätselhafte Begebenheiten erlebte, erinnert sich: an ein deutsches Dorf mit noch deutscherem Namen, wie dort gesät, geerntet, geboren, gelebt und gestorben wurde. Damals ließ man den letzten preußischen Kaiser im fernen Berlin einen guten Mann sein. Der Erste Weltkrieg war noch leise Ahnung, von der niemand wissen konnte, ob sie Heldenmut oder Todesangst hervorrufen sollte. In der Kirche wird im Namen des Herrn gepredigt, auf dem Feld im Namen des Gutsherrn geackert und daheim im Namen des Vaters gebetet, daß kein Gürtel zur Hand sein möge. Viele Gebieter und viele Gebote, denen es sich zu unterwerfen gilt.
Am Ende aller hierarchischen Ketten stehen die Kinder. Zwei, sieben, zwölf je Haushalt. Sie lernen, einer ausgestreckten Hand zu mißtrauen, weil sie Schläge und wer weiß was noch bedeuten kann. Sie bilden konspirative Gemeinschaften, von denen nur Gott weiß, ob sie mit dem Reitunfall des Dorfarztes oder dem verprügelten Herrensöhnchen oder dem ermordeten Wellensittich des Pfarrers in Verbindung stehen. Zur Strafe für ihre kleinen Vergehen tragen die Kinder ein weißes Band, das sie an ihre gottgegebene Reinheit erinnern soll, während die Erwachsenen sich gründlich dreckig machen ...
Geographie und Historiographie dieses Filmlandes bleiben vage, das Ortsschild „Eichwald“ eine zu deutliche symbolische Marke, als daß die universellen Tatsachen, die darunter verhandelt werden, verborgen bleiben könnten. Denkt Haneke an Deutschland in der Nacht, denkt er auch an eine allgemeingültige dörfliche Peripherie, die einem allemal den Schlaf rauben dürfte. Noch bevor in einem Schützengraben ein Schuß fällt, wird Brutalität vom Großen ins Kleine weitergereicht, hat sich ein Tadel von oben nach unten in eine Ohrfeige verwandelt, ist eine leise Herabsetzung zur zwischen den Zähnen gezischten Demütigung geworden: „Da hätte ich auch eine Kuh bespringen können.“
Noch einmal: Haneke kann überall Heimatfilme drehen. Und er kann ein Klima machen, das mit Wetter aber auch gar nichts zu tun hat. Was hier klirrt, ist emotionale Kälte. Was hier zieht, ist kein offenes Fenster, sondern der abrupte Umschlag von verhaltener Freundlichkeit in kaum verhohlene Grausamkeit. Schwarz und Weiß sind dafür sicher die richtigen Farben. Aber sie und all die wunderbare digitale Technik nützen einen Scheißdreck, wenn man nicht einen Kameramann wie diesen hat. Christian Berger schneidet die Bilder hart an, wenn ihm der Verdacht kommt, daß Überflüssiges gezeigt werden würde. Falls er den Blick – fast flehend – zum Horizont erhebt, findet sich dort vieles, aber keine tröstende Weite. Und sollte er seine brillanten Einzelaufnahmen einmal in einer Ausstellung nebeneinander hängen, wird es aussehen, als habe jemand ein altes Fotoalbum über die Filmrolle gejagt, um dem trägen Auge all jene ernüchternden Momente zwischen Kommunionsporträt und Paradeaufnahme zur Silbernen Hochzeit vorzugaukeln, bei denen ein Fotograf absolut unerwünscht ist.
Um Thomas Bernhard, einem von Hanekes österreichischen Landsmännern zu widersprechen: Nicht in allem und jedem findet sich „Scherzmaterial.“ Hanekes Sache ist das Schmerzmaterial, das sich unter und hinter einem Gewaltausbruch angesammelt hat.
Ganz Weltbürger, sucht er sich die dafür passende Familie selbst zusammen: überragende Schauspieler, die sich klaglos in Nebenrollen fügen, gestalterische Mittäter, die alles daran setzen, unsichtbar zu bleiben – Wahlverwandtschaften eben. Doch es ist erstaunlich, wie groß und kleinlich die Verwandtschaft plötzlich ist, wenn es sich unter die Goldene Palme von Cannes zu setzen gilt, wenn man sich vielleicht sogar auf ein Gruppenfoto bei den Academy Awards drängeln darf – Landsleute, wohin man schaut ...
D/Ö/F/I 2009, 145 min
FSK 12
Verleih: X-Verleih
Genre: Drama
Darsteller: Christian Friedel, Ulrich Tukur, Burghart Klaußner, Steffi Kühnert, Josef Bierbichler, Gabriela Maria Schmeide, Rainer Bock, Susanne Lothar, Birgit Minichmayr, Detlev Buck
Stab:
Regie: Michael Haneke
Drehbuch: Michael Haneke
Kamera: Christian Berger
Kinostart: 15.10.09
[ Sylvia Görke ]