Wenn Milan, verkörpert von Frankreichs Rock-Ikone Johnny Hallyday, eingangs als einziger Reisender aus dem Zug steigt, glaubt man sich schon in einem Western. Der Typ trägt Stiefel und eine Lederjacke mit Fransen, der Bahnhof ist verwaist, und die Musik könnte von Ry Cooder sein. Die Szenerie aber öffnet sich, und der Zuschauer kommt in einem verschlafenen französischen Nest an, wo Milan die Bank überfallen will. Auf seinem Weg durchs Dorf begegnet er dem pensionierten Lehrer Manesquier, der kurz vor einer Herzoperation steht. Die zwei kommen ins Gespräch, Manesquier überläßt Milan ein Zimmer in seinem Haus, und zwischen den beiden unterschiedlichen Männern bahnt sich eine Freundschaft an. Während sie sich besser kennenlernen, deutet sich an, daß jeder sich wünscht, er würde das Leben des anderen führen. Manesquier träumt davon, ein Abenteurer zu sein, Milan, der Heimatlose, dagegen, sehnt sich nach einem geruhsamen Leben. Die Frage danach, was gewesen wäre, wenn sie den Weg des anderen eingeschlagen hätten, wird für beide immer wichtiger. Nur drei Tage bleiben ihnen, um das herauszufinden ...
Patrice Leconte versteht es meisterhaft, den Zuschauer zu verführen. Er verführt ihn mit Figuren, deren Image schnell zu einem Bild führt, welches sich als einseitig erweist und im Fortlauf der Handlung revidiert werden muß. Und er verführt durch die Neugier, mit der man zwei völlig gegensätzlichen Charakteren durch eine Geschichte folgt. Einerseits setzt er auf Konstanten, wie die Besetzung seines Stammschauspielers Jean Rochefort, andererseits überrascht er mit Johnny Hallyday. Auffällig artifiziell ist, wie Leconte alle Elemente des Filmes auf die Erzählung abstimmt, wie sie Anteil haben an der Verschiedenheit der Charaktere. Das Licht begleitet Milan in kalt-metallenem Blau, Manesquier dagegen in warmen Beigetönen. Der Abenteurer geht seinen Weg begleitet von Lonsesome-Rider-Melodien, die Musik des Pensionärs ist Schubert.
Einzig der Versuch des Regisseurs, der Geradlinigkeit der Geschichte mit einem etwas seltsamen Ende zu begegnen, irritiert. Patrice Lecontes Weigerung, zu traurigen Schlüssen umzukehren, ignoriert das Eigenleben seiner Figuren, welche er so wunderbar aus der Taufe gehoben hat.
Originaltitel: L’HOMME DU TRAIN
F 2002, 90 min
Verleih: Alamode
Genre: Tragikomödie
Darsteller: Jean Rochefort, Johnny Hallyday
Regie: Patrice Leconte
Kinostart: 08.12.05
[ Jane Wegewitz ] Für Jane ist das Kino ein Ort der Ideen, ein Haus der Filmkunst, die in „Licht-Schrift“ von solchen schreibt. Früh lehrten sie dies Arbeiten von Georges Méliès, Friedrich W. Murnau, Marcel Duchamp und Man Ray, Henri-Georges Clouzot, Jean-Luc Godard, Sidney Lumet, Andrei A. Tarkowski, Ingmar Bergman, Sergio Leone, Rainer W. Fassbinder, Margarethe v. Trotta, Aki Kaurismäki und Helke Misselwitz. Letzte nachhaltige Kinoerlebnisse verdankt Jane Gus Van Sant, Jim Jarmusch, Jeff Nichols, Ulrich Seidl, James Benning, Béla Tarr, Volker Koepp, Hubert Sauper, Nikolaus Geyrhalter, Thierry Michel, Christian Petzold und Kim Ki-duk.