Die Verschwörung von "Dogma 95" hat Thomas Vinterberg und Lars von Trier zu Blutsbrüdern gemacht, mögen sie sich auch zeitweise in den Weiten der Kinoprärie aus den Augen verloren haben. Bei Gefahr geben sie sich Feuerschutz. Und als gefährlich muß dieses gemeinsame Filmgefecht allemal gelten, ist es doch ein ästhetischer und erzählstrategischer Vorstoß auf US-amerikanisches Hoheitsgebiet.
Ein ärmliches Bergarbeiterkaff, modellhaft nachgebaut in einer Kulissenlandschaft aus kleinen Läden, Marktplatz und Zeche, markiert das Schlachtfeld. Vom Regiestuhl aus verstreut Vinterberg Westernstaub und High-Noon-Romantik, während von Trier aus der Deckung des Drehbuchs eine Moralallegorie aus dem Geiste von DOGVILLE abfeuert. Deren intellektuelle Bosheit fordert einmal mehr die meisten Opfer. Ein klarer Sieg nach Toten im Wettstreit unter alten Dogma-Freunden, möchte man sagen. Zunächst trägt sich hier jedoch eine der seltsamsten Liebesgeschichten zu, die von Trier bis dato ersonnen hat, nämlich jene zwischen dem Supermarktkassierer Dick und einem zierlichen Damenrevolver mit Perlmuttgriff. Warum das Traumpaar auseinander ging, erklärt Dicks Abschiedsbrief an seine "liebe Wendy", eingelesen aus dem Off.
Der Zufall bringt den jugendlichen Pazifisten und die stahlkalte Verführerin zusammen: er auf der Suche nach einem Präsent für ein fremdes Geburtstagskind, sie als fast vergessene Auslage im Geschenkelädchen. Dicks erste große Liebe macht ihn so mutig, so rundherum selbstbewußt, daß sie auch anderen zur psychischen Aufrüstung gereichen soll. Gemeinsam mit dem schüchternen Kollegen Stevie, dem beinlosen Huey, dessen kleinem Bruder Freddie und der trotzigen Susan wird der Club der Dandys ins Leben gerufen. In einer stillgelegten Mine trifft man sich zum Rendezvous mit Vorderladern und Sechsschüssigen. Auf das ernsthafte Studium von Ballistik und Eintrittswunden folgt die Erholung bei Schießübungen, Initiations- und Verkleidungsritualen. Als aber der junge Schwarze Sebastian dem schwer bewaffneten Bund für inneren Frieden beitritt, als die treulose Wendy unter dessen kräftigen Händen geradezu dahinschmilzt, ist das Paradies von Eifersucht vergiftet. Kaum einer wird den Showdown überleben.
Noch in den epischen Längen verwandelt sich diese als Neo-Western getarnte, in ihrem Irrsinn absolut plausible und ernste Satire den berittenen Selbstverteidigungsballaden Hollywoods an. Kerlige Bilder in männlich-staubiger Optik umschmeicheln Hauptdarsteller Jamie Bell, jenen Ballettenthusiasten aus BILLY ELLIOT, der den Lonesome Cowboy hier in einer perfiden Neuinterpretation verkörpert (Tanzeinlage inklusive). Kubricks Brutalgroteske UHRWERK ORANGE stand Pate für den elitären Dandy-Verein mit eigener Sprache. All das gipfelt in einem dichten Kugelregen auf offener Straße, bei dem zum besseren Nachvollzug die Schußverläufe eingezeichnet sind. So geht das Um-die-Ecke-Schießen auf einen Bengel- und Rabaukenfetisch, der zum Phallussymbol einer Kultur geworden ist.
Originaltitel: DEAR WENDY
DK/D/F/GB 2005, 101 min
FSK 18
Verleih: Legend Filmverleih
Genre: Satire, Drama, Schräg
Darsteller: Jamie Bell, Bill Pullman, Michael Angarano, Danso Gordon, Novella Nelson, Chris Owen, Alison Pill
Stab:
Regie: Thomas Vinterberg
Drehbuch: Lars von Trier
Kinostart: 06.10.05
[ Sylvia Görke ]