Zu Beginn gibt es einen Kameraschwenk. In einer langen fast 360-Grad-Bewegung erfaßt der Blick russische Schneeweite unter blaukaltem Sonnenhimmel. Bald jedoch schiebt sich eine kleine Ölpumpstation ins Bild, seltsam befremdlich mit ihrer stoischen Mechanik inmitten stiller Natur. Und ziemlich verloren auch, denn der Blick wandert weiter, und schnell ist da wieder diese glitzernde, weiße Weite bis zum Ende dieses Schwenks, eine einsame, pittoresk anmutende Dorfkapelle mit ihrer vergoldeten Zwiebelkuppel erscheint. Vor der Kapelle stehen ein paar Kids. Jugendliche, Jungens und Mädchen, und aus dem Off fragt eine Stimme, ob sie wissen, wer Michail Chodorkowski ist. Sie wissen es sogar ziemlich genau. Ein Verräter, der Rußland bestehlen wollte.
Cyril Tuschi ist davon nicht so felsenfest überzeugt. In seinem Dokumentarfilm DER FALL CHODORKOWSKI rollt er genau diesen noch einmal auf: die Causa vom schwerreichen Oligarchen, der (tatsächlich? scheinbar?) zum Demokraten wurde, zum politisch Aktiven und damit für die Mächtigen gefährlich. Die Geschichte von einem Mann, der vom braven Sowjet-Komsomolzen zum cleveren Kapitalisten zum reichsten Bürger Rußlands (und mithin einem der vermögendsten der Welt) mutierte und schließlich in einer Mischung aus Farce und Drama zum berühmtesten Gefangenen des Landes wurde.
Ein Politikum, eine Rechtssprechungsposse, ein Drama. Eine Mentalitätsgeschichte über russisches Demokratieverständnis, über chauvinistische Eitelkeiten und die Fallstricke der Macht – all das gibt DER FALL CHODORKOWSKI her. All das bedient Tuschi. Mit Animationen, die die Verhaftung Chodorkowskis in seinem Privatflugzeug durch russische Spezialkräfte nachstellt, mit bekannten (und unbekannten) Gerichtsszenen und mit zahllosen Interviews. Zu Wort kommen dabei Gegner, Familie, Politiker, viele Geschäfts- und wenige richtige Freunde.
Dabei gerät Tuschis Dokumentation zu einer von denen, die sehr klug und auch mal emotional Oberflächenwissen vertiefen. Einen komplexen Zusammenhang zwischen den medialen Schlagwörtern ziehen, die Lücken im dabei angeeigneten Halbwissen füllen. Nur, daß das alles formal eine Sache fürs TV und eher nicht fürs Kino ist. Wieder einmal – muß man hinzufügen. Wie auch das: Kino muß einfach mehr bieten als Information und Journalismus. Was das etwa ist, das zeigte DER FALL CHODORKOWSKI in seiner Eröffnungssequenz. Danach leider nicht mehr.
D 2011, 116 min
FSK 12
Verleih: Farbfilm
Genre: Dokumentation, Biographie
Regie: Cyril Tuschi
Kinostart: 17.11.11
[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.