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Der Geschmack von Rost und Knochen

Schicksalswucht in Kraft und Schönheit

Ganz leicht scheint das: Mit einer fast meditativ ruhigen Handbewegung dirigiert Stéphanie diese Orcas aus dem Wasser heraus zu einem Sprung. Als wäre sie eine Meeresgöttin, die, zart und zerbrechlich gegenüber diesen Tieren, nur einer Geste bedarf, um diese in all ihrer Größe, Schönheit, Kraft und auch Gefährlichkeit zu bändigen. Doch ist Stéphanie eben kein Mythenwesen, sondern trainiert Orcas im Marineland-Vergnügungspark von Antibes für einschlägige Shows. Und in einer solchen wird das Schicksal von einer Sekunde auf die andere Stéphanie aus der Bahn werfen, wird ihre Handbewegung keine bändigende Kraft mehr entfalten, und eines dieser Tiere wird seine Größe und Gefährlichkeit fatal spüren lassen.

Was für eine Szene! Eine, die wie gleichnishaft aufscheint in Jacques Audiards DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN. Diese Tiere wie das Leben für dirigierbar zu halten, kann sich, wie hier, aus heiter blauem Himmel als brutale Illusion entpuppen. Und wenn das jetzt so hingeschrieben vielleicht etwas banal klingt, so muß man einfach sehen, wie schlüssig und tief sich diese Metapher in diesem Film offenbart. Diesem Film, der ja erst einmal nicht von Stéphanie erzählt, sondern von Ali und seinem 5jährigen Sohn Sam. Der Vater, der seinen Sohn kaum kannte, sich plötzlich um diesen kümmern muß und sich deshalb mit ihm völlig mittellos aus dem Norden Frankreichs zu einer Reise aufmacht. Nach Antibes, wo Alis Schwester wohnt, wo man unterkriecht auf engstem Raum. Sich an einem Familienleben versucht, für das gerade Ali nicht geeignet scheint. Der Ex-Kickboxer übernimmt bald Jobs in einer Sicherheitsfirma, die nicht selten am Rande der Legalität sind. In einem Nachtklub lernt er Stéphanie kennen. Flüchtig nur und unverbindlich und scheinbar bald vergessen. Aber das Schicksal zwingt die Unverbindlichkeit hinweg. Wenn Ali Stéphanie wiedertrifft, ist die eine seelisch und körperlich Gezeichnete. Mutlos und verkrüppelt. An der ruppigen, mitleidslos pragmatischen Art Alis aber wird Stéphanie wachsen, ins Leben zurückfinden. Doch auch Ali hat seine bitteren Lektionen noch zu lernen.

All das nun hätte in DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN sehr schnell zu jenem pathetisch aufgeplusterten Rührstück geraten können, den dieser etwas unglückliche deutsche Verleihtitel suggeriert. Warum der sinnloserweise Geschmacksnerven strapaziert und nicht einfach das französische Original übersetzt oder sich alternativ für den noch lakonischer anklingenden Titel der Vorlage, Craig Davidsons Kurzgeschichte „Rust And Bone“, entschied, ist ein Rätsel. Denn was Audiards Film auszeichnet, ist eben, daß hier nichts aufplustert, nichts pathetisch kleistert, sondern all die Schicksalswucht dieser Geschichte sich gleich einer ruhigen Handbewegung entfaltet. Und gerade deshalb als Melodram in Kraft und Schönheit aufleuchtet.

Originaltitel: DE ROUILLE ET D’OS

F 2012, 120 min
FSK 12
Verleih: Wild Bunch

Genre: Drama, Schicksal

Darsteller: Marion Cotillard, Matthias Schoenaerts, Armand Verdure

Regie: Jacques Audiard

Kinostart: 10.01.13

[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.

Der Geschmack von Rost und Knochen ab heute im Kino in Leipzig