Bekannt ist das Ereignis als ein Fall der jüngsten deutschen Geschichte: Im Juli 2002 starb der 16jährige Marinus Schöberl, schwer mißhandelt und getötet von drei Jugendlichen. Nach dem Mord vergruben die Täter den Leichnam in einer Jauchegrube. Vier Monate später wurden die Überreste des Jungen gefunden, und plötzlich fand sich Potzlow, das uckermärkische Dorf, 60 Kilometer entfernt von Berlin, wieder im Blitzlichtgewitter journalistischer Berichterstattung. Und wie der mediale Sturm aufbrandete (und daneben ein sanftes politisches Windchen blies), so legte er sich wieder, und mit ihm legten sich die Diskussionen. Die Täter waren bald ins rechtsextremistische Lager gerückt, dem Strafvollzug übergeben, und die Situation im Dorf glaubten jene begriffen zu haben, die sich nahe genug an den sogenannten sozialen Abgrund herangewagt hatten, ihn zu schauen. Potzlow und seine Bewohner aber blieben dort, wo sie waren, ausgestattet mit dem Sonderstatus einer Region, die man allzu leichtfertig als "schwierig" benennt. Und nun kommt Andres Veiel mit einem Kinofilm, der vorgefundene Bilder geradezu verneint, der sie ausklammert und damit Potzlow geradewegs in unsere Mitte rückt.
DER KICK verweigert das Rauschhafte eines Zustandes, in welchen das Kino den Zuschauer so gern versetzt, indem es eine seiner fesselnden Geschichten erzählt, zu einer Ästhetik findet, die Blick und Geist auf die Leinwand richtet, oder beides verbindet. Bei Veiel gibt es keine Filmhandlung im erzählerischen Sinne, und die Mittel, mit denen er arbeitet, darf man zunächst reduziert nennen: Zwei ungeschminkte Schauspieler übernehmen in Monolog und Dialog fast zwanzig Rollen, und sie agieren in einer nahezu leeren Fabrikhalle. Daß der Regisseur damit Meinungen provoziert, wie solche, daß DER KICK gar kein "richtiger" Film sei, es fehlten die "filmischen Mittel" und die Distanz zum Geschehen wäre zu groß, ist vorhersehbar. Phrasen wie "abgefilmtes Theater" werden hier gern im Sinne einer Wertung herangezogen, und eine solche mag dem ersten Blick genügen.
Tatsächlich gab es nach monatelanger Recherche in Potzlow zunächst das gleichnamige Theaterstück in der Regie von Andres Veiel und Gesine Schmidt, basierend auf Gesprächen mit den Dorfbewohnern, Angehörigen von Opfer und Tätern und einem umfangreichen Aktenstudium. Daß sich das filmische Protokoll nun davon wesentlich unterscheidet, ist im Grunde naheliegend - vergleicht man die Möglichkeiten beider Künste - und führt zu den filmischen Mitteln Veiels. Bereits am Beginn sind diese wahrnehmbar. Die Akteure durchmessen, scheinbar in Vorbereitung eines Kommenden, wie zufällig den Raum und eröffnen dem Zuschauer damit seine Dimension. Schon hier - das Licht ist mit Bedacht gesetzt, und die Geräuschkulisse ist nur eine scheinbar beiläufige - trifft man auf die Genauigkeit, mit der Veiel inszeniert.
Mit Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch hat der Regisseur überdies zwei präzise und intensiv agierende Schauspieler gewonnen, denen die Balance gelingt zwischen dokumentarischen Textfragmenten und einer notwendigen Stille. Wo das Theater, ein Beispiel nur, der Totalen verpflichtet bleibt, kann der Film diese verlassen. So verweilt die Kamera auf den Gesichtern der Akteure, dann wieder weitet sie den Blick, sie folgt der deklamierenden Figur und verläßt sie wieder, um beim schweigenden Gegenüber einzuhalten. Wo der KICK auf vordergründige Illustration verzichtet, erlaubt er wahrhaftige Einsichten. Die Distanz, auf welch individuelle Weise man sie auch erleben mag, bietet Möglichkeiten, sich mit dem Unmöglichen zu befassen. Dies verweist auf eine Lesart des Titels, den Kick, der auch Anregung impliziert.
Veiel eröffnet hier, gleichsam an den Grenzen des dokumentarischen Kinos, einen Weg zu Wahrhaftigkeit, vor dem man sich scheuen mag, der aber Befreiendes mit sich bringt. Man muß ihn nur gehen wollen.
D 2006, 82 min
Verleih: Piffl Medien
Genre: Drama, Psycho, Experimentalfilm
Darsteller: Susanne-Marie Wrage, Markus Lerch
Regie: Andres Veiel
Kinostart: 12.10.06
[ Jane Wegewitz ] Für Jane ist das Kino ein Ort der Ideen, ein Haus der Filmkunst, die in „Licht-Schrift“ von solchen schreibt. Früh lehrten sie dies Arbeiten von Georges Méliès, Friedrich W. Murnau, Marcel Duchamp und Man Ray, Henri-Georges Clouzot, Jean-Luc Godard, Sidney Lumet, Andrei A. Tarkowski, Ingmar Bergman, Sergio Leone, Rainer W. Fassbinder, Margarethe v. Trotta, Aki Kaurismäki und Helke Misselwitz. Letzte nachhaltige Kinoerlebnisse verdankt Jane Gus Van Sant, Jim Jarmusch, Jeff Nichols, Ulrich Seidl, James Benning, Béla Tarr, Volker Koepp, Hubert Sauper, Nikolaus Geyrhalter, Thierry Michel, Christian Petzold und Kim Ki-duk.