Am 9. Juli 2004 explodierte in der belebten Kölner Keupstraße eine Nagelbombe vor einem türkischen Friseursalon. 22 Menschen wurden verletzt, und noch am gleichen Tag nahm die Polizei die Ermittlungen auf. Bald wurde klar, daß die Polizei ihre Untersuchungen auf die Opfer selbst konzentrierte – ein ausländerfeindliches Motiv wurde weitgehend ausgeblendet. In den folgenden Jahren wurden Opfer und Angehörige immer wieder zu stundenlangen Befragungen vorgeladen, von verdeckten Ermittlern ausspioniert und beschattet. Den Tätern kam die Polizei so nicht auf die Spur, dafür verbreiten sich im Kiez Mißtrauen und Angst. In der Keupstraße, so erzählt eine türkischstämmige Schneiderin, seien eigentlich zwei Bomben explodiert: die eine vor dem Friseurladen, und die andere, als die Anwohner realisierten, daß der deutsche Rechtsstaat für sie nicht funktioniert.
Als Ende 2011 herauskam, daß nicht nur die Nagelbombe, sondern zehn Morde und weitere Anschläge auf das Konto der rechtsterroristischen Organisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ gingen, war für den Journalisten und Regisseur Andreas Maus klar, daß er über das tiefgehende Versagen des deutschen Rechtsstaats einen Dokumentarfilm drehen will. Durch lange Gespräche ließen sich die Opfer aus der Keupstraße trotz ihres gewachsenen Mißtrauens gegenüber den Massenmedien von dem Projekt überzeugen. Maus konnte sich außerdem auf Stöße von Ermittlungsakten stützen, die das Versagen der Behörden minutiös nachvollziehbar machen. Um einen unmittelbaren Eindruck der ausweglosen Situation der Opfer zu vermitteln, stellte der Regisseur die Befragungen der Bewohner anhand der Verhörprotokolle mit Schauspielern szenisch nach. Dieses Verfahren, das an Andres Veiels Vorgehen bei DER KICK erinnert, macht auf beklemmende Weise deutlich, wie sehr rassistische Vorurteile und Stereotypen den Blick der Ermittler getrübt haben und eröffnet den Protagonisten die Möglichkeit, sich ganz auf die eigene Wahrnehmung zu konzentrieren (und nicht die Geschehnisse en détail nacherzählen zu müssen).
Obwohl der parallel zu den Dreharbeiten beginnende NSU-Prozeß das massenmediale Schlaglicht schnell wieder in Richtung der Täter verschoben hat, bleibt DER KUAFÖR AUS DER KEUPSTRASSE glücklicherweise konsequent bei den Opfern. Und diese bewußte Fokussierung macht umso deutlicher sichtbar, daß Fremdenfeindlichkeit in Deutschland keine bedauerliche Ausnahme, sondern ein strukturelles Problem ist.
D 2015, 92 min
FSK 0
Verleih: Real Fiction
Genre: Dokumentation, Polit
Regie: Andreas Maus
Kinostart: 17.03.16
[ Luc-Carolin Ziemann ] Carolin hat ein großes Faible für Dokumentarfilme, liebt aber auch gut gespielte, untergründige Independents und ins Surreale tendierende Geschichten, Kurzfilme und intensive Kammerspiele. Schwer haben es historische Kostümschinken, Actionfilme, Thriller und Liebeskomödien ... aber einen Versuch ist ihr (fast) jeder Film wert.