Über ein Jahr lang führte Priester Jean Bernard Tagebuch, was insofern außergewöhnlich ist, da er es im Pfarrerblock des Konzentrationslagers Dachau tat. Ein unsentimentaler Bericht, welchem Volker Schlöndorff Motive für seinen neuen Film entnahm.
Hilflos muß KZ-Insasse Abbé Henri Kremer ansehen, wie ein Häftling als grausame Jesus-Parodie gekreuzigt wird. Hätte er etwas dagegen tun können? Und als Kremer einen winzigen Rest kostbaren Wassers für sich allein beanspruchte – lud er Schuld auf sich, indem er es nicht teilte? Am schwersten wiegt jedoch eine ganz andere Last auf den eingefallenen Schultern des Abbé: Man hat ihm Freigang gewährt. Neun Tage, die er angeblich mit seiner Familie verbringen darf, welche in Wahrheit jedoch nur dazu dienen, ihn für politische Ziele der SS zu mißbrauchen. Sollte er nach Ablauf der Frist nicht freiwillig ins KZ zurückkehren, werden seine Glaubensbrüder hingerichtet. Während die Uhr erbarmungslos tickt, steht Kremer vor der Entscheidung, entweder seine Menschlichkeit oder aber wahrscheinlich sein Leben zu verlieren.
In einer der berührendsten Szenen des Films liefert sich Henri mit Schwester Marie schlicht eine Schneeballschlacht. Wie diese zwei erwachsenen Menschen vor dem Hintergrund des allgegenwärtigen Schreckens Kindern gleich herumalbern und sich in ihrer liebevollen Selbstvergessenheit gegen alles Grauen stellen, geht tief unter die Haut. Gleiches gilt für die geniale Darstellung Ulrich Matthes’ – ein einziger Blick von ihm sagt mehr, als es 20 Seiten Drehbuch könnten.
Meist jedoch entfernen sich Regie und Buch von emotionalen Darstellungen oder Abbildern des Leids, lassen die Figuren vielmehr gewichtige philosophische Gedanken äußern bzw. Rededuelle ausfechten. Zentrales Thema ist da unter anderem die zynische Provokation eines Nazi-Schergen, Kremer sei ein moderner Judas. Das verlangt zum einen zumindest rudimentäre Kenntnisse der Bibel und ringt andererseits dem oft behandelten Kapitel deutscher Geschichte eine faszinierende neue Facette ab, fordert heraus, erzwingt Diskussionen und Debatten – berührend ist es allerdings kaum. Aber vielleicht macht gerade solche Nüchternheit dieses Werk so besonders.
D/Luxemburg 2004, 97 min
Verleih: Progress
Genre: Drama, Schicksal, Historie
Darsteller: Ulrich Matthes, August Diehl, Bibiana Beglau, Hilmar Thate, Germain Wagner
Regie: Volker Schlöndorff
Kinostart: 11.11.04
[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...