Nachdem sich Anthony Minghella die Verfilmungsrechte an Bernhard Schlinks Erfolgsroman sicherte, hat es noch ein paar Jahre gedauert, bis man sich an die Umsetzung machte. Sicher aus Respekt vor der Vorlage, die zweifelsohne zu den beklemmendsten und in der Klarheit der Sprache präzisesten Werken der modernen Literatur gehört. Sicher auch, weil man auf der Suche nach der richtigen Darstellerin dieser rätselhaften Hanna Schmitz war. Und man kann nur dem Gott der Castingagenten danken, daß Nicole Kidman dann doch unpäßlich wurde. Nein, eine derart derbe, zugleich fragile, verschlossene und in ihrer späten Neugier fast kindliche Frau kann eine zunehmend kapriziöse Mimin wie die Kidman gar nicht spielen. Sie kann es einfach nicht. Hingegen Kate Winslet als Idealbesetzung erscheint, schön, aber nicht von überirdischer Anmut, figürlich, ohne diese schrecklich moderne Knabenhaftigkeit, und sie hat eben diesen spöttischen Zug um die Mundwinkel, der Winslet so besonders macht und Schmitz so vorzüglich steht, der dem Knaben Michael Berg sicher auch den Verstand raubte.
Hanna kümmerte sich kurz um ihn, als er in den Nachkriegsjahren von Krankheit gezeichnet sich in ihrem Hausflur erbrach. Michael besucht später Hanna, um danke zu sagen. Als er sie, eine einfache Frau in einfachen Verhältnissen, wie zufällig in Strümpfen und Unterwäsche sieht, ergreift er die Flucht. Nur um später wiederzukommen. Nachdem er ihr beim Kohletragen half, fordert sie ihn – völlig verdreckt, wie er ist – zum Bade auf. Nach anfänglicher Schüchternheit läßt Michael dies zu, bis Hanna ihm das Handtuch reicht – dabei steht sie hinter seinem Rücken, nackt. Eine der zärtlichsten Szenen des ansonsten weitgehend nüchtern erzählten Films. Eine weitere – wieder in der Badewanne – ist die, als Hanna ihn zärtlich und konzentriert einseift. All das ist mittlerweile ritualisiert, und doch scheint dieses Zeremoniell ein Abschied zu sein. Kurz darauf verschwindet Hanna aus dem Leben des Jungen. Vorbei die Zeit des wilden Liebens, der Heimlichkeit, der Stunden über Büchern – denn es wurde rasch zur Gewohnheit, daß Michael der wesentlich älteren Geliebten vorlas. Sie war wiß- und hörbegierig: Tschechow, Homer und auch Lady Chatterley durften es sein.
Wer das Buch nicht kennt, dem soll hier die Neugier am Film nicht genommen werden, daher sei von der vielleicht ohnehin zulänglich bekannten Geschichte nicht mehr verraten werden, als daß die beiden sich wiedersehen werden. Hanna Schmitz auf der Anklagebank eines Gerichts ... Auch durch die Besetzung dieses ungleichen Paares – ein ganz wunderbarer David Kross gibt den Verführten – kann man dem Film bescheinigen, daß er sich doch gelungen der Vorlage angenommen hat. Schon Schlinks Buch bestach zum einen durch das erotische Moment dieser Begegnung, gepaart mit dem nüchternen Ton, der zum Liebesschmerz des plötzlich verlassenen Jungen und zu den Ängsten und dunkelsten Geheimnissen der Hanna Schmitz bestens paßt. Naturgemäß wurde einiges verkürzt, wobei die Szene in der literarischen Vorlage, als Hanna in der Bibliothek von Michaels Vater über die Buchrücken streicht, dem Film und auch dem Verständnis der Figur und dieser neuen Leidenschaft Hannas zuträglich gewesen wäre. Klug beraten war der Regisseur indes, die Figur des älteren Michael härter zu zeichnen, dazu gehört auch – eine im Buch so nicht vorhandene – Szene des frühen Zögerns, als der Jurastudent Berg einen Gefängnisbesuch abbricht. Diese Wut, diese Enttäuschung, diese für ihn lebenslange Verbitterung bis zur seelischen Vernarbung unterstreicht die Jetztzeit und wird entsprechend kühl, distanziert von Ralph Fiennes verkörpert.
Letztendlich ist auch der Film DER VORLESER genau das, was das Buch auszeichnete – eine brillante Studie über Scham und Schuld, eine fesselnde Abhandlung über die fatalen Irrtümer des Lebens: Geschichte, Justiz und Jugend.
Originaltitel: THE READER
D/USA 2008, 124 min
FSK 12
Verleih: Senator
Genre: Drama, Literaturverfilmung, Liebe
Darsteller: Kate Winslet, David Kross, Ralph Fiennes, Lena Olin, Bruno Ganz, Alexandra Maria Lara, Hannah Herzsprung, Karoline Herfurth
Regie: Stephen Daldry
Kinostart: 26.02.09
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.