Ein gut funktionierendes Paar braucht zwei starke Individuen. Und ein starkes Individuum formt sich vor allem aus dem Bewußtsein seiner Herkunft und Geschichte. Traditionelle Musik enthält dieses Bewußtsein in hohem Maße. In Osteuropa dient Musik noch sehr stark der Identifikation. Vor allem zwei Volksgruppen haben in ihrer überlieferten Musik ein Zuhause gefunden, das sie sonst durch Verfolgung und Vertreibung vermissen. Das ausgerechnet diese beiden, die Klezmermusik der jüdischen Kultur und die Lautarmusik der Roma, eine gemeinsame Vergangenheit haben sollen, hat 14 Musiker aus ganz Europa und Amerika dazu veranlaßt, eine Reise zu den Wurzeln ihrer (musikalischen) Herkunft anzutreten.
Zwei Jahre lang reisen sie gemeinsam durch Europa, auf der Suche nach dem Klang der Musik ihrer Großväter, die vor dem Zweiten Weltkrieg noch einen gemeinsamen Stil geprägt haben. Aber um wieder zusammenzufinden, müssen erst einmal die Unterschiede gefunden werden, und so probt die Gruppe anfangs unterteilt in zwei Bands. Das ermöglicht dem Zuschauer, die verschiedenen Temperamente der Musik zu erfahren – und zu genießen. Gemeinsam mit den Bildern aus Moldawien, Ungarn oder Israel, wo die Gruppe in entlegenen Dörfern mit alten Musikern spricht, erzeugt der Film den Wunsch, sich selbst sofort auf den Weg dorthin zu machen.
Irgendwann wird die musikalische Spurensuche leider zur wissenschaftlichen Detektivarbeit. Die ursprünglich kulturellen und politischen Beweggründe werden verdrängt von einer, dem Zuschauer und auch einigen Mitgliedern der Gruppe allzu theoretischen und verkrampften, Suche nach einem vielleicht zu hoch gesteckten Ziel. Der Film blendet diese Phase nicht aus, im Gegenteil. Er zeigt die Schwierigkeiten, die die Arbeit in einer solchen Gruppe mit sich bringt, zumal man nicht vergessen darf, daß hier ein Dutzend Kreative in einem ausdrücklich gewollten demokratischen Prozeß versucht, etwas Unterhaltsames auf die Bühne zu bringen. Und so kann der Zuschauer den schwierigen, auch zwischenmenschlich komplizierten Prozeß miterleben und nachempfinden.
Und dann stellt sich plötzlich heraus, es gibt eigentlich keine unterschiedlichen Techniken oder Stile. Es ist die Art und Weise des Spielens, die die Musik verändert. Der soziale Stand und das Herz, sagen die alten Männer in dem ungarischen Dorf, machen die Musik zu dem, was sie ist, und das ist weder in Worte zu fassen noch an einer Hochschule zu lernen.
Originaltitel: THE OTHER EUROPEANS IN: BROKEN SOUND
D/Österreich/Ungarn/Israel/Polen/F/Moldawien/USA 2011, 125 min
FSK 0
Verleih: 1meter60
Genre: Dokumentation, Musik
Regie: Yvonne Andrä, Wolfgang Andrä
Kinostart: 19.04.12
[ Marcel Ahrenholz ] Marcel mag Filme, die sich nicht blind an Regeln halten und mit Leidenschaft zum Medium hergestellt werden. Zu seinen großen Helden zählen deshalb vor allem Ingmar Bergman, Andrej Tarkowskij, Michelangelo Antonioni, Claude Sautet, Krzysztof Kieslowski, Alain Resnais. Aber auch Bela Tarr, Theo Angelopoulos, Darren Aronofsky, Francois Ozon, Jim Jarmusch, Christopher Nolan, Jonathan Glazer, Jane Campion, Gus van Sant und A.G. Innaritu. Und, er findet Chaplin genauso gut wie Keaton ...