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Die Anonymen Romantiker

Ein Genre probt die berührende Rückwärtsrolle – und findet dabei zu seinem erwachsenen Ich

Gerade jetzt, in diesem Moment, wagen irgendwo auf der Welt zwei Menschen eine Annäherung. Da darf man fragen: Geht es um Sex oder die große Liebe? Sind es Pragmatiker oder Träumer? Model-Typen oder Mauerblümchen? Verarbeiten sie emotionale Nachwehen oder haben noch keinerlei negative Erfahrungen machen müssen? Stehen ihre Chancen allgemein gut oder die Zeichen eher auf Sturm – so wie bei den Protagonisten unseres Films?

Da wäre zunächst Angélique, für deren handgefertigte Pralinen jeder Gourmet Höchstnoten verteilen würde. Doch leider kann die nicht mehr ganz junge Dame ihre Köstlichkeiten nur versteckt kreieren, denn sie ist höchst sensibel und fällt angesichts menschlicher Kontakte in Ohnmacht. Wegen einer privaten Tragödie sucht die Schüchterne neue Arbeit und bewirbt sich bei einer Schokoladenmanufaktur unter Leitung von Jean-René. Er wiederum leidet an Panikattacken, fürchtet sich besonders vor Frauen. Das Vorstellungsgespräch verläuft entsprechend unorthodox; trotzdem bekommt Angélique den Job. Als Außendienstlerin! Jetzt wollen also beidseitig Hürden genommen sein, zumal sich völlig unerwartete Zuneigung in die Chef-Angestellte-Beziehung schleicht.

Es folgt Frage 2: Was macht Regisseur Jean-Pierre Améris’ autobiographisch gefärbte Liebesgeschichte derart speziell? Die obligatorischen Verwicklungen sicherlich nicht. Sondern vielmehr, daß Améris auf übliche Spielchen verzichtet: Bei ihm geht es nie darum, ob diese beiden einzigartigen Menschen letztlich zueinanderfinden und nebenbei das in Bankrottnähe stehende Geschäft retten oder nicht, er verzichtet auf bremsende, durch vermeintlich überraschende Wendungen aufgelöste Mißverständnisse. Ungewöhnlich hohes Tempo reiht Szene an Szene und verbindet pointierte Dialoge, während Améris allein das „Wie“ im Auge behält. Und, solches Wortspiel sei erlaubt, das Menü umgekehrt serviert, quasi mit dem Dessert startet.

Luftig gerät der Beginn, witzig und bunt, Musical-Einlage inklusive. Wäre das unverändert geblieben, hätte man etwas Schönes, aber trotz allem weniger Besonderes gesehen. Doch der Hauptgang folgt, hier werden Ängste und Nöte hinzugefügt, der Gehalt erhöht. Wenn zum Beispiel Angélique auf Zetteln mögliche Gesprächsthemen fürs erste (seitens Jean-Renés Therapeuten initiierte) Date notiert hat und sich dann auch gleich todesmutig verbal in den Nahostkonflikt stürzt, dann ist das so bittersüß, weil hier eben keine Teenager ihre Unsicherheiten überwinden müssen, sondern Leute reiferen Alters, welche eine andere – beileibe nicht die letzte – herzrührende Sequenz beim Spaziergang im strömenden Regen zeigt. Eine Art Flucht vor der Furcht.

Schauspielerisch unterscheidet sich Améris’ Film ebenfalls von im weitesten Sinn ähnlichen cineastischen Köstlichkeiten. Da grinst sich Isabelle Carré eben nicht durch wie weiland Juliette Binoche in CHOCOLAT, als hätte sie heimlich, aber dafür offensiv, am Schokolikör genippt. Nein: Carré, dieses bezaubernde, stets zerbrechliche, zunehmend dennoch erstrahlende und immer die Handlung beherrschende Geschöpf wie aus anderen Sphären, ist eine Angélique, deren Wahrhaftigkeit auf eigenen Erfahrungen fußt, Geständnissen wie diesem entspringt: „Ein Teil meines Selbst richtete sich gegen mich.“ Da kann selbst Benoît Poelvoorde, obwohl ein großartiger Darsteller, lediglich unterstützend wirken. Lebensechte Nebenrollen primär in Form von Jean-Renés Angestellten, namentlich zwei buchstäblich süße Jungs und als Kontrastprogramm zwei gestandene Ladies, die ihren Vorgesetzten gern mal zum Glück zwingen, runden die mimische Vielfalt ab.

Grundsätzlich ist dies, faßt man es zusammen, weiterhin zwar „nur“ eine romantische Tragikomödie. Allerdings eine, die sich an erwachsene, denkende, wirklich fühlende sowie vielleicht sogar die Einsamkeit kennende Zuschauer richtet – und somit eine Rarität. Dafür steht auch das finale Bild: Etwas Liebevolleres und Mitnehmenswerteres hat das Kino wohl lange nicht gezeigt. Schon allein dafür gebührt Améris einfach Dank.

Originaltitel: LES ÉMOTIFS ANONYMES

F/Belgien 2010, 80 min
FSK 0
Verleih: Delphi

Genre: Tragikomödie, Liebe, Poesie

Darsteller: Isabelle Carré, Benoît Poelvoorde, Lorella Cravotta, Lise Lametrie, Swann Arlaud

Stab:
Regie: Jean-Pierre Améris
Drehbuch: Jean-Pierre Améris

Kinostart: 11.08.11

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...