Die Uhren in diesem Film ticken anders. Die Zeit verläuft langsamer. Kleine Details und Eindrücke gewinnen an Gewicht. Die Geschichte, die erzählt wird, ist schlicht und geheimnisvoll, und die Spannung kommt auf leisen Sohlen. Bei Jacques Rivette, dem nicht unbedingt bequemsten, dafür feinfühligen Regisseur der Nouvelle-Vague mit Hang zur Überlänge, braucht es glücklicherweise keinen sich überschlagenden Plot, kein übertriebenes Pathos und keine Musik. Augen und Ohren kommen trotzdem nicht zu kurz.
Der Uhrmacher Julien lebt zurückgezogen mit seiner Katze in einem verwinkelten und charismatischen Haus mitten in Paris. Das Interesse an der Welt hat er verloren, auch wenn gelegentlich der Schulhof ins Fenster flutet und die reale Welt sich in Erinnerung ruft. Zu welcher Welt die geheimnisvolle Madame X gehört, die Julien mit dubiosen Materialien fast emotionslos erpreßt, ist schwer zu sagen. Noch rätselhafter verhält es sich mit der sinnlich-entrückten Marie, die er eines Tages wiedertrifft und zu sich holt. Von nun an streunt sie als Geliebte und Komplizin durch Juliens Haus, öffnet verschlossene Kammern wie in Blaubarts Schloß und geht dort Tätigkeiten nach, die Julien nicht begreift. In leidenschaftlichen Begegnungen beginnen sie, einander alles zu bedeuten, und zugleich steht alles zwischen ihnen. Bis Julien von Madame X auf Maries düsteres Geheimnis gestoßen wird.
An dieser Stelle hat sich die "Legende" von Marie und Julien, wie es passenderweise heißen müßte, vom subtilen erotischen Thriller zum romantisch-mystischen Liebesfilm entwickelt, angereichert mit märchenhaften und mythischen Bezügen, doch immer verankert in einem sinnlich-übersinnlichen Naturalismus.
Alles bleibt nuancenreich durchlebte Gegenwart, auch wenn Leben und Tod, Realität und Traum sich überlagern. Rivette greift mit Emmanuelle Béart, mit der er DIE SCHÖNE QUERULANTIN drehte, und Jerzy Radziwilowicz auf bewährte und gegensätzliche Darsteller zurück, die sich auf wunderbare Weise ergänzen.
Originaltitel: HISTOIRE DE MARIE ET JULIEN
F 2003, 150 min
Verleih: Flax Film
Genre: Drama, Liebe
Darsteller: Emmanuelle Béart, Jerzy Radziwilowicz, Anne Brochet
Regie: Jacques Rivette
Kinostart: 25.11.04
[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...