Thordur, Besitzer eines Fischereibetriebes, trommelt seine Kinder zwecks Regeln der Nachfolge zusammen. Was bald am heimischen Eßtisch Platz nimmt, ist die Familie des Grauens – Agûst will lieber Karriere machen und interessiert sich deshalb auch kaum für seine schwangere Verlobte. Haraldur, dessen alkoholkranke Frau so ziemlich alles täte, um aus Island verschwinden zu können, schmiedet insgeheim schon Pläne, die Fabrik zu verkaufen. Ragnheidur schließlich schielt starren Blickes nur auf ihren Erbanteil. Zuguterletzt gibt’s noch die zynische Oma, welche sich zum eigenen Verdruß standhaft weigert zu sterben. Was als Kampf um Geld und Macht beginnt, endet schnell im erbitterten Privatkrieg, weil dunkle Geheimnisse ans Tageslicht gezerrt werden.
Nun kennen regelmäßige Kinogänger die zum Start neuer Filme angeworfene PR-Maschinerie und wissen: meistens viel Lärm um Nichts. Ein wie hier zusätzlich mit Superlativen à la "Meisterwerk" aufwartendes Plakat steigert das Mißtrauen erst recht – aber manchmal stimmt’s eben doch. Was nämlich Baltasar Kormákur nach seinem halbgaren Debüt 101 REYKJAVÍK diesmal auf die Leinwand wirft, zeichnet Island zwar unverändert in trostlosen Farben, wirkt aber ungleich reifer. Daß ein Theaterstück als Vorlage diente, ist durch geschickte Öffnung der Schauplätze kaum zu merken bzw. mit Blick auf die sparsame Inszenierung sogar ein Gewinn. Ohne Schnickschnack gräbt sich Kormákur tief in die familiäre Seele, um dort verlorenes Vertrauen, Sprachlosigkeit und mehr Haß als Liebe zu finden. Einzig Agûsts bezaubernde Freundin, also quasi der Fremdkörper unter allen Anwesenden, darf uneingeschränkt positive Züge tragen, was sie indes konsequenterweise nicht vor Verletzung schützt.
Ganz perfide wird’s allerdings, wenn Kormákur das Publikum unvermittelt von hinten packt, indem er sein Werk mit Humor spickt oder aber Szenen auf die äußerste mögliche Spitze treibt. So untermalt zum Beispiel fröhliche Tüdelü-Musik einen Dialog, in dem Agûst ohne spürbare Emotionen erzählt, daß Schwester Ragnheidur einst einer Vergewaltigung zum Opfer fiel. Augenblicke wie dieser tun weh – und erheben DIE KALTE SEE zum wahrhaft großen Film.
Originaltitel: THE SEA
Island/F/Norwegen 2002, 109 min
Verleih: Neue Visionen
Genre: Drama
Darsteller: Gunnar Eyjólfsson, Hilmir Sn¾r Gudnason
Regie: Baltasar Kormákur
Kinostart: 07.10.04
[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...