Originaltitel: LA LIGNE
CH/F/Belgien 2022, 103 min
FSK 12
Verleih: Piffl
Genre: Drama
Darsteller: Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi, Elli Spagnolo, Dali Benssalah, India Hair
Regie: Ursula Meier
Große Kunst schon zu Beginn: Vivaldis „Cum dederit“, geschmissene Vasen, wirbelnde Notenblätter. Grotesk verzerrte Mimik, eine heftige Ohrfeige. Ein Kopf, aufs Klavier prallend. Brutale physische und psychische Übergriffe, inszeniert wie ein berückender Tanz. Die weggezerrte und -geworfene Angreiferin. Handfeste Verzweiflung. Titeleinblendung.
Was braucht’s und muß geschehen, um die Mutter zu attackieren? Sicher nicht allein das hier als Grund Genannte, es kann bloß letzter Tropfen gewesen sein. Margarets Faß war voll, sie hat immer mal den bedrohlich steigenden Pegel abgeschöpft, es bereits vorher auf aggressive Auseinandersetzungen abgesehen, deren Spuren ihren schmalen Körper übersäen. Doch nun eben Schluß, aus, Mutter Christina soll den Preis zahlen, endlich. Und sie tut’s, nur umgedreht und zurückgeschossen, danke fürs Verständnis! Die gewohnt furchtlose Valeria Bruni Tedeschi schenkt Christina in ihren intensiven Szenen dabei nix; etwa dann, wenn sie, ganz hingegebene Tragödin, am Flügel sitzt, sie, die frühere Solistin, ein Star – bis die schrecklichen Kinder kamen, fragen Sie lieber nicht weiter, verbaler Broschengriff, engste Selbstumkreisung. Fast fliegt sie in den eigenen Bauchnabel rein und aus dem Mund wieder raus.
Christina sagt extrem verletzende Dinge, tut Brüskierendes und probiert dennoch auch, eine Mama zu sein. Jetzt sogar Oma, ein Weihnachtswunder. Aber könnten die neugeborenen Enkelinnen weniger schreien?! Bitte! Derweil malt Marion, jüngste Tochter und zwischen den Fronten aufgerieben, eine Linie ums Haus, Margarets gerichtlich angeordneter Abstand. An dieser babyblauen Grenze treffen sich die Schwestern, üben Gesang, Christina gabelt unterdessen einen feschen Galan auf.
Regisseurin Ursula Meier beobachtet da einfach, mit Röntgenblick indes. Sie nutzt die Kamera dazu, den Figuren praktisch ins Gesicht zu springen – und sofort danach Distanz zu suchen, während sich ein identisches Wechselspiel in der dysfunktionalen Familiendynamik vollzieht. Lösungen anbieten? Kaum möglich. Hoffnungsfunken schlagen? Eventuell. Obwohl sich final zwangsläufig ein Kreis zum Anfang schließt: das – vielleicht – vorsichtige Versöhnungsangebot. Verunsichertes mütterliches Geplapper, Margarets Schweigen. Beredte Blicke, handfeste Verzweiflung. Ein kollektiver Kloß im Publikumshals. Abspann. Große Meiersche Kunst.
[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...