Im Licht der Gefräßigkeit eines deutschen Langnamen-Bischofs besehen, lädt DIE NONNE förmlich zur tagesaktuellen Kirchen-Watsche ein. Doch gottlob, die Zeiten haben sich gewandelt. Heute verletzt eben ein Würdenträger selbst und höchst öffentlich „die Gefühle und das Gewissen der katholischen Bevölkerung“, nicht mehr ein Film. Das Zitat eines französischen Ministers begründete 1966 übrigens den Index für Jacques Rivettes Version von Diderots Novelle gleichen Namens.
Über 150 Jahre zuvor war „Die Nonne“ als wuchtige Schrift gegen den verdorbenen Freiheitsbegriff und die Willkür der Kirche erschienen. Es ist sicher eine Schande, daß sie noch immer für die alten Metaphern herhalten kann. Doch Regisseur Guillaume Nicloux versteigt sich gar nicht erst in platte Anklagen und vorsätzliche Heutigkeit, sondern verschiebt jede Interpretation zum Zuschauer. Der kann das großartige zweistündige Werk mit eigenen Entdeckungen bereichern, die gern rein cineastischer Natur sein dürfen.
Denn da wäre die atemberaubende Belgierin Pauline Étienne in der Hauptrolle, die hier im „frankophilen Sektor“ als neues Gesicht gelten darf, das man sich – wäre die Bemerkung nicht fast schon eine Plattitüde – merken sollte. Da wäre die starke Balance aus aufbegehrenden Stimmungen und Momenten unsäglicher Qual hinter Klostermauern. Und da wäre das wirklich nachvollziehbare Verankern der Geschichte in ihrer Zeit. Nicht zuletzt: DIE NONNE ist nach THE CONGRESS und STEIN DER GEDULD die dritte aktuelle Kinoarbeit des Komponisten Max Richter. Er nimmt die Zurückhaltung und Dichte der Inszenierung auf vorzügliche Weise auf.
Worum es geht? Das Mädchen Suzanne wird von ihrer bürgerlichen Familie keine Aussteuer zum Heiraten bekommen. Der wahre Grund liegt im Verborgenen, denn ihrer Mutter ist ein von „Verfehlungen“ freigesprochenes Leben nicht länger möglich: Suzanne ist die Frucht einer Untreue. An Stelle ihrer Mutter soll sie dafür büßen und Nonne werden. Dem anfänglichen Gehorchen folgen das nachdrückliche Erwachen, die sanfte Rebellion. Suzanne sagt beim Ablegen des Gelübdes nein. Sie habe Gott die Wahrheit versprochen, ihr Herz wäre nicht hier, nur ihr Körper. Für diese kluge, anmutige Frau, die „zu jung ist, die Liebe zu verstehen“ und „die Sprache der Sinne“ nicht kennt, beginnt eine Tortur, aber auch ein kaum für möglich gehaltener selbstbestimmter Kampf. Um sich.
Originaltitel: LA RELIGIEUSE
F/D/Belgien 2012, 114 min
FSK 12
Verleih: Camino
Genre: Drama, Literaturverfilmung
Darsteller: Pauline Étienne, Isabelle Huppert, Martina Gedeck
Regie: Guillaume Nicloux
Kinostart: 31.10.13
[ Andreas Körner ]