Originaltitel: THE SEED OF THE SACRED FIG

Iran/D/F 2024, 167 min
Verleih: Alamode

Genre: Drama, Thriller, Polit

Darsteller: Misagh Zareh, Soheila Golestani, Mahsa Rostami, Setareh Maleki

Regie: Mohammad Rasoulof

Kinostart: 26.12.24

  • Film des Monats

Die Saat des heiligen Feigenbaums

Mut auf Probe

Definiere Mut! Was wie ein Befehl für smarte Sprachassistenten klingt, die sich in Sachen Antwort lapidar ihrer Algorithmen bedienen, richtet sich sehr eindeutig an jene, die keine Assistenten brauchen. Nicht für Navigation, Küchenlicht und Kontaktanbahnung. Nicht für den Gang ins Kino. Die Aufforderung geht an Menschen, die sich sicher wähnen in ihrem Geschmack und dem Wunsch, einfach mal „einen guten Film“ zu sehen. Unter welchen Umständen er entstanden ist? Das steht auf anderen Blättern.

Manchmal – und sehr gern bei iranischen Filmen – werden die Umstände zu dominant, weil zu oft aus den Gebetsmühlen öffentlicher Stellen gedreht, wird das potentielle Publikum regelrecht bedrängt damit. Auf internationalen Festivals mit ihren offiziellen Fachblasen mag es noch funktionieren und ist in Teilen wichtig für die Wahrnehmung. Dann aber, wenn ein neuer und, bleiben wir dabei, iranischer Film regulär ins deutsche Kino kommt, lenken die Umstände eher ab. Was, wenn das Werk nicht „hält“?

Bei DIE SAAT DES HEILIGEN FEIGENBAUMS von Mohammad Rasoulof gerät die Sache mit dem Mut zur existentiellen Angelegenheit. Spätestens, als man die Zuschauer zur Filmkunstmesse Leipzig vor dem Teamgespräch eindringlich bat, aus Sicherheitsgründen auf Fotos mit der Dolmetscherin zu verzichten, war der Film endgültig vorbei und transformierte in pure Realität. Ein Film, der das alte Kinojahr auf fulminante Weise ins neue tragen wird, weil er alles, wirklich alles Elementare in sich trägt, das uns immer wieder vor die Leinwände zieht. Und ja, es ist ein Wunder, daß es ihn gibt. Der Umstände wegen.

Iman bekommt acht Patronen und eine Pistole. Zu seinem und dem Schutz seiner Lieben, natürlich. Die Waffe aber wird den neu berufenen Untersuchungsrichter noch in Angst und Schrecken versetzen, nämlich dann, als sie fehlt, verschwunden in oder aus Imans Zuhause. Hier lebt er mit seiner loyalen, ihm innig zugewandten Frau Najmeh und den beiden Töchtern Rezvan und Sana. Es ist eng dort, doch für irgendetwas muß die nächste Stufe der Karriereleiter ja gut sein, und sei es nur für eine größere Wohnung.

Allerdings ist die Botin dieser guten Aussichten eine Kröte. Iman wird sie schlucken, denn am Revolutionsgericht in Teheran gibt es keine langen Ermittlungen. Eid hin, Eid her, hier braucht es Unterschriften unter schnelle Urteile – Haftstrafen, Exekutionen. Würde Iman sich weigern, wäre er morgen schon weg. Wegen gestern. Regisseur Rasoulof reißt diese Tatsachen an und verlagert das Epizentrum seiner psychologisch äußerst klugen Geschichte schnell und konsequent in die Familie. Während man anfangs geneigt ist, die Struktur derselben als intakt und offen zu bezeichnen, zieht die intensivere Draufsicht stark und stärker Bruchlinien, offenbaren sich Wirklichkeiten, die Privates und Gesellschaftliches auf zum Teil atemberaubende Weise vernetzen, erhitzen, unterminieren.

Wo bis jetzt im Dunkel der Zimmer eh schon viel getuschelt wurde, werden die Konflikte laut und lauter. Draußen erst recht. 2022 eskalieren die Proteste im iranischen Volk nach dem Tod einer jungen Frau in Polizeigewahrsam. Sie werden brutal niedergeknüppelt und niedergeschossen. Wo es bis dahin nur den Kokon der Eheleute betraf, in dem sie mit dem Leben, das „sich verändern muß“, zu dealen versuchen, wird DIE SAAT DES HEILIGEN FEIGENBAUMS endgültig zum brisanten Vier-Personen-Stück, denn Sadaf, die beste Freundin der großen Tochter Rezvan, gerät direkt in die Unruhen. Schrotkugeln in ihrem Gesicht markieren einen Knackpunkt für die drei Frauen, und jede wird auf ihre Weise geknackt. Was mit leisem Rumoren beginnt, mit zarten Irritationen und bald vehementeren Kommentaren zu Fernsehbildern am Eßtisch, wächst zum unaufhaltbar drängenden Begehren bis hin zur finalen Erschütterung in Ruinen. Und ja, das alles ist bis in die kleinste Pore so persönlich wie allegorisch.

Im iranischen Kino dominieren immer wieder Innenräume und Autofahrten. Und diese sagenhaften Ensembleleistungen, vereint auch im Mut. Definiere großes Kino! Besser noch: Geh hin!

[ Andreas Körner ]