Originaltitel: LES HÉRITIERS
F 2014, 105 min
FSK 12
Verleih: Neue Visionen
Genre: Drama
Darsteller: Ariane Ascaride, Ahmed Dramé, Adrien Hurdubae
Regie: Marie-Castille Mention-Schaar
Kinostart: 05.11.15
Für die Schnellabwinker, die wittern, derartige Geschichte schon mit DIE KLASSE von Laurent Cantet erzählt bekommen zu haben: geschenkt! Denn auch wenn der grobe Rahmen – Pädagoge engagiert sich für multikulturelle Schüler – ein ähnlicher ist, diese Geschichte ist dennoch ganz anders. Sie hat sich nicht nur wirklich zugetragen, sie drückt viel mehr auf der Brust, sie versteckt ihr pochendes Herz nicht. Denn DIE KLASSE war durchaus nüchterner gefilmt, hingegen Marie-Castille Mention-Schaar auf Passion und Gefühl setzt, was für einen derartigen Stoff eine ganz wunderbare Richtung ist.
Madame Gueguen ist nämlich eine Lehrerin voller Leidenschaft, das macht sie zu Beginn des Schuljahres auch deutlich: Sie hat Spaß an dem, was sie tut, und sie ist nicht bereit, sich den vermiesen zu lassen. Schon das macht Eindruck vor einer Bande, die am Léon-Blum-Gymnasium in der Pariser Banlieue als eine kaum zu bändigende gilt: Disziplinarverfahren, Ausfälle, Fehlstunden, Beleidigungen, körperliche Übergriffe – die Liste ist lang, Vertretungslehrer heulen und verzweifeln, Anne Gueguen aber sucht nach Wegen. Weil sie an Schüler glaubt, die den Glauben an sich selbst verloren haben. Klar, ein gehöriges Maß an Leidensfähigkeit gehört sicher dazu, aber es ist vor allem die Respekt abringende Portion an Nächstenliebe, Berufung und Zuversicht, welche die Lehrerin ausmacht. Als sie ihren Schülern die Teilnahme an einem Wettbewerb vorschlägt, in dem es um die Auseinandersetzung mit der Deportation von Jugendlichen in der Nazizeit geht, ist die Begeisterung – gelinde ausgedrückt – zurückhaltend. Doch Gueguen hat Argumente, sie zeigt, daß diese zurückliegenden Schicksale sehr wohl mit den Geschichten von Malik und Mélanie, Theo und Jamila, Max und Saïd zu tun haben. Und so geht ihr und uns Zuschauern das Herz auf, als nach vorerst mäßiger Teilnahme am Arbeitstreffen plötzlich fast die ganze Klasse in die Raum strömt.
DIE SCHÜLER DER MADAME ANNE ist – bedauerlicherweise – ein sehr wichtiger Film zur Zeit. Gerade jetzt, wo Fremdenhaß und die Ablehnung anderer Lebensformen wieder zunehmen, ist dieser Film mit seiner zutiefst humanistischen Haltung dringend notwendig. Deswegen sind auch ein paar Überdeutlichkeiten hinnehmbar, anders noch, vielleicht sind gerade diese notwendig, um unmißverständlich klarzumachen, daß sich die Geschichte nicht wiederholen darf, daß man frühzeitig gegensteuern muß. Da braucht es keine dramaturgischen Schnörkel, da darf durchaus ein wenig erwartbar erzählt werden, weil ja die Richtung stimmt: Wir müssen uns auflehnen gegen die Banalisierung des Todes, das Grauen hinter dem Wort „Genozid“ muß gegenwärtig bleiben.
Da kommt eine wie Anne Gueguen genau richtig: Sie kann zum einen undogmatisch und dabei kenntnisreich vermitteln, zum anderen verfügt sie über Fingerspitzengefühl, um die durchaus komplizierte Lebenssituation der Jungen zu verstehen. Es ist teilweise die Hölle, dieses Gefühlschaos, das sie durchleben – dieser Nebel aus Pubertät und erstem Verliebtsein, elterlichem und sozialem Druck, flankiert durch die Dogmen von Materialismus und Religion. Um eine solche Figur eben menschlich und nicht streberhaft zu zeichnen, konnte es in der Besetzung keine andere als die wunderbare Ariane Ascaride geben. Sie und der im Film schließlich eintreffende Brief aus Brüssel lassen den Zuschauer immer wieder durchatmen und schlucken.
Wie wichtig das Streben wider das Vergessen ist, zeigt die zu Tränen rührende Begegnung der Schüler mit dem als Kind nach Auschwitz deportierten Zeitzeugen Léon Zyguel. Man muß den Überlebenden zuhören, so lange sie dazu bereit und fähig sind. Zyguel starb wenige Wochen nach dem Kinostart in Frankreich.
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.