Originaltitel: MARIE HEURTIN
F 2014, 95 min
FSK 6
Verleih: Concorde
Genre: Drama, Schicksal
Darsteller: Isabelle Carré, Ariana Rivoire, Brigitte Catillon, Gilles Treton
Regie: Jean-Pierre Améris
Kinostart: 01.01.15
Die Kirche als Institution wurde im internationalen Kino immer kritisch angepackt, für Mißstand und Verwerfung angeprangert, für Schäden in den Biographien von Menschen verantwortlich gemacht. Zu Recht! DIE UNBARMHERZIGEN SCHWESTERN von Peter Mullan (2002) und DIE NONNE von Guillaume Nicloux (2013) mögen als kraft- wie schmerzvolle Beispiele genügen. Nun aber steht das Wirken der Kirche als Rettungsanker ihrer Seelen im Mittelpunkt, und auch das geschieht natürlich zu Recht. Selbst Erz-Atheisten werden es nicht leugnen.
Sie schreit, tobt, fuchtelt mit ihrem gesamten Körper. Marie ist 14 und fühlt, daß es gerade einen tiefen Einschnitt in ihrem jungen Leben gibt. Daß es die Wende hin zum Besseren sein könnte, fühlt sie nicht. Ihr Vater hat sie, angebunden auf seinem Gespann, ins westfranzösische Institut Larney gebracht, auf der Reise ging es ihr noch gut, Papa war ja dabei, ein Vertrauter, ein Wissender. Doch nun sind nur noch Fremde um sie herum – Larney ist Lebensmittelpunkt für taube Kinder, betrieben von der Kirche. Marie Heurtin aber ist nicht nur taub, sondern auch blind. Ihre Eltern sind an ihr verzweifelt, sie ißt kaum, wäscht sich nicht, wechselt keine Kleidung. Im ausgehenden 19. Jahrhundert bleibt dem Mädchen nur die Irrenanstalt, falls es in Larney nichts wird. Es wird nichts. Zunächst.
Wieder klappert ein Gefährt auf den Wegen vor Larney, diesmal ist es eine Schubkarre. Marie kommt zum zweiten Male an, Schwester Marguerite hat sich gegenüber der Oberin durchgesetzt und wagt einen neuen Versuch mit dem Mädchen, über das sie in ihr Tagebuch geschrieben hat: „Heute bin ich einer Seele begegnet (...) Einer Seele, die durch die Gitter ihres Gefängnisses wie tausend Lichter strahlte (...) Aber sie hat mich erwartet.“ Es ist nicht, wie von Zauberhand gesteuert, plötzlich leichter mit Marie, wieder gibt es Schrammen, Beulen, Wunden, Schreie, Ängste. Doch Marguerite, zunehmend körperlich schwächer werdend, findet den Weg durchs Gitter hindurch. Es dauert monatelang. Denn Marie kann ja tasten und riechen, sie weiß nur nicht, wie ihr die verbliebenen Sinne von Nutzen sind.
DIE SPRACHE DES HERZENS ist ein Zuschauerfilm, was sein prämierter Einsatz auf französischen Festivals in Deutschland zuletzt bewiesen hat. Wo sein hiesiger Titel zu deutliche Register zieht, weil der originale – schlicht MARIE HEURTIN – zu fremdelnd erschien, ist es trotzdem genau das, was das Drama auszeichnet: Herz, kein Schmus, Gefühl, nicht Gefühligkeit, Melancholie, nicht Sentimentalität. Die Unterschiede, so fein sie auch erscheinen mögen, sind von enormer Wirkung.
Regisseur Jean-Pierre Améris trifft viele richtige Entscheidungen. So blendet er den Alltag im Institut (Was für ein schönes Wort im Vergleich zu „Heim“!) fast komplett aus, konzentriert sich auf die berührende Isabelle Carré als Schwester, die zupackende Entdeckung Ariana Rivoire als Marie – und die Jahreszeiten. Er unterlegt den Film mit Cello-Miniaturen statt opulentem Gegeige, macht das Kleine genau so groß, daß das Strecken eines menschlichen Wesens hin zum Licht nicht als bloße Behauptung im Raum steht.
Daß DIE SPRACHE DES HERZENS auf wahren Begebenheiten beruht, daß es Marguerite und Marie wirklich gegeben hat, verkommt nicht zur vordergründigen Rechtfertigung. „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“? Kirche wie Kino bieten diesmal keinen Grund, daran zu zweifeln.
[ Andreas Körner ]