D/Österreich/CH 2023, 118 min
FSK 6
Verleih: Neue Visionen
Genre: Thriller, Horror
Darsteller: Jan Bülow, Olivia Ross, Hans Zischler
Regie: Timm Kröger
Kinostart: 26.10.23
Es sind ja gar nicht wenige Physiker, die inzwischen die „klassische“ Interpretation der Quantenmechanik nach Nils Bohr weitgehend relativieren, wenn nicht gar ganz verwerfen, und sich stattdessen auf die sogenannte Multiversums- bzw. Viele-Welten-Theorie kaprizieren. Was ihrerseits Heerscharen an Marvel-Fans eh schon seit Ewigkeiten machen; ist doch dort das Multiversum etwas so Selbstverständliches wie der grotesk hautenge Latexfummel, den die Superhelden so gern tragen. Wobei hier freilich anzumerken ist, daß in kinematographischer Hinsicht die weit interessantere, da subtiler strukturierte und visuell eindrucksvollere Muiltiversum-Phantasmagorie aufs Konto von David Lynch geht. Vor allem dessen dritte Staffel der „Twin Peaks“-Serie markiert da einen Kulminationspunkt. Man schaue, schaudere, staune – und versuche dann mal, das zu verstehen.
Um bei Drehbuchautor und Regisseur Timm Kröger und dessen DIE THEORIE VON ALLEM zu sein. Ein Film, der, bei aller offenkundigen Unterschiedlichkeit, einiges von Großmeister Lynch in sich trägt. So wie er überhaupt einiges aus dem Multiversum der Kinogeschichte absorbiert hat und es erstaunlich stilsicher zu etwas Eigenem formte.
An der Oberfläche ist DIE THEORIE VON ALLEM dabei erst einmal ein vorzüglich aufbereiteter Thriller. Dessen Handlung führt ins Jahr 1962, ins luxuriöse Schweizer Berghotel „Esplanade“, wo auf einem Physikkongreß ein iranischer Wissenschaftler eine bahnbrechende Theorie der Quantenmechanik vorstellen will. Allerdings erscheint der Mann nicht im Hotel. Also wartet die Wissenschaftsgemeinde, vertreibt sich die Zeit mit Geplänkel, pflegt Eitelkeiten und Aversionen, fährt Ski, tanzt im Ballsaal und spekuliert, was der abwesende iranische Stargast denn nun eigentlich genau zu verkünden haben würde, wenn er denn dann endlich mal anwesend wäre. Unter den Kongreßgästen befindet sich auch der junge deutsche Physiker Johannes, angereist mit seinem bärbeißigen Doktorvater und selbst auf der Spur einer recht spektakulären (oder auch nur spekulativen) physikalischen Theorie. Doch schwirren Johannes bald andere Dinge im Kopf rum. Karin etwa, die hübsche und etwas mysteriöse Hotelpianistin, in die er sich verliebt. Und dann liegt da plötzlich einer der Physiker tot im Schnee. Ermordet auf ziemlich rabiate Weise. Und Karin ist spurlos verschwunden.
Es ist eine klassische Film-noir-Konstellation, mit der DIE THEORIE VON ALLEM aufwartet. Und die Kröger konsequenterweise auch „klassisch“ in Szene setzt. Mit einem Luxushotel, dessen Setting immer labyrinthischer und bedrohlicher anmutet. Mit brillanten Schwarzweiß-Bildern der abgrunddunklen Schatten vorm blendend gleißenden Schnee (Kamera: Roland Stuprich). Mit einer Musik, die mal orchestral aufpeitscht, mal düster mäandert. Das ist formal vom Feinsten, kunstvoll zitatenreich – und von raffinierter Heimtücke außerdem.
Es ist ein wenig wie mit diesen versteckten, geheimnisvollen Leiterschächten, die sich im Handlungsverlauf des Films immer wieder öffnen und Johannes bald in schwindelerregende Tiefen führen. Soll heißen: Unter der klassischen, wenn man so will, ästhetisch akkuraten Thriller-Oberfläche verbirgt sich ein recht spektakuläres Labyrinth des Spekulativen. Das sich zunehmend als der reine Horror offenbart.
In DIE THEORIE VON ALLEM korrelieren Gravitation, Elektromagnetismus und Kernkraft mit den Gespenstern der deutschen Geschichte, ziehen surreale Wolkenformationen und Kalte-Kriegs-Paranoia gemeinsam durch die ungerührte Alpenlandschaft, flirrt das geniale physikalische Paradox von Schrödingers Katze (die tot und nicht tot zugleich ist) als mögliche Erklärung für die gruseligen Weltenwandler, diese Wiedergänger aus dem Reich der Toten (oder doch nur der eigenen Paranoia?), denen der arme Johannes begegnet. Das alles ist in DIE THEORIE VON ALLEM drin. Ein Film, der damit selber ein Stück Raum-Zeit-Durchdringung vollführt. Als Kino, das zugleich klassisch und im besten Sinne modern ist. Man schaue, schaudere, staune. Und versuche dann mal, das alles zu verstehen.
[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.