Originaltitel: I SOGNATORI
I/GB 2003, 130 min
FSK 16
Verleih: Concorde
Genre: Erwachsenwerden, Erotik, Schwul-Lesbisch
Darsteller: Eva Green, Michael Pitt, Louis Garrel
Regie: Bernardo Bertolucci
Kinostart: 22.01.04
In "Les enfants de novembre", einem ihrer schönsten Chansons, singt die unvergessene Barbara: "Ils sont venus pour un, tombé sous le violence, ils sont venus tout dire, et le dire en silence, tous pour un, tous pour tous, d’aimer nos différences, beaux, unicolores, multicolores, ils sont venus nous dire, de taire nos violences ..."
So ähnlich und noch abstrakter wird es das Leben den schüchternen Amerikaner Matthew lehren. Es ist die Zeit der Studentenrevolten. Fernab von Woodstock verspricht sich der adrette Knabe echte Bewußtseinserweiterung ohne hirnschwammige Drogen, fragmentarische Folksongs und flatternde Kleiderreste: es zieht ihn also nach Europa, den Hort der kultivierten Barbarei, der zügellosen Kulturen, der gelebten Lust am intellektuellen Disput, den Herd der freien Liebe. Die trifft Matt ausgerechnet vor der legendären Cinemathèque Française in Paris, in der aufreizenden Isabelle. Eher zufällig ist Matt in den Strudel der gegen die Entlassung des Cineasten-Ur-Vaters Henri Langlois Protestierenden geraten, und nun schaut er in die bezirzenden Augen der Sirene Isabelle. Er folgt ihr in die herrschaftliche Wohnung ihrer Eltern, die mal wieder irgendwo in der Fremde ihren fragwürdigen Reichtum verprassen, und trifft dort auf Theo, glutäugiger Lockenkopf, um der Welten Gunst dauerbuhlender Provokateur und außerdem Isabelles Bruder. Die Geschwister sind sich irgendwie inzestuös zugetan.
Nun beginnen die Drei eine Art Filmquiz, man neckt sich, stichelt, reibt sich an gegenseitigen Kulturlosigkeiten, badet im Banausentum, sudelt in zweideutigen Gesten und eindeutigen Berührungen. Matt wird Isabelle die verzweifelte Unschuld nehmen, auch die Jungs kommen sich sehr nahe, juvenile Körper präsentieren sich einander, und schließlich werden einige von ihnen zwar erwachsener, vielleicht auch gewachsener, aber keinesfalls glücklicher sein ...
Es ist ein wunderbares Bild, das Bertolucci für gefühlige Befangenheit, versteckte Krämpfe und amouröses Schattenboxen sehr junger Menschen findet. Abkömmlinge eben jener Nationen, denen zwar die Freiheitsliebe in die Gene geschleust wurde, jedoch nicht die Fähigkeit, sie auszuleben. Es wird sich um Kopf und Kragen geredet, es wird nur zugehört, um zu erwidern, verliebt in den eigenen Hall, alles geben, um den anderen auszubooten, bloßzustellen, kleinzumachen. Und wozu? Um schließlich innig geliebt zu werden! Rationalisten wird vermutlich nur ein Kopfschütteln gelingen, Romantiker werden jubilierend verloren geglaubtes Terrain zurückerobert sehen. Bertolucci wagt in seinem freizügigen Film über verklemmte Sklaven der Liberalität die These, daß nur wer sich liebt auch lieben kann. Und geliebt wird. Das hat etwas von Bauernschläue, das scheint naiv. Ist es auch, dazu eben lebensweise. Und auch deshalb ist es ganz und gar fabelhaft, daß ausgerechnet der Amerikaner Matt Beschränkungen aufhebt, das Spießertum entlarvt und weiter in den Spiegel schauen darf. Irgendwie ein sehr kluges und allen ärgerlichen Mißverständnissen und unangenehmen Tatsachen übergeordnetes Bild.
Matt wird vom US-Nachwuchs-Star Michael Pitt gespielt. Er gibt ihn mit samt-milchiger Haut und verliebt-wildem Blick. Er verliert sich beim wahrscheinlich schönsten und längsten Zungenkuß auf Zelluloid, er brilliert und berührt ganz tief durch seinen Mut zu einer Nacktheit, die zwar wunderschön anzusehen ist, aber ebenso verletzbar und ängstlich wirkt.
Am Ende wird die Revolution in vollem Gange sein, und Bertolucci greift gut beraten zu den alten Helden: Edith Piafs "Non, je ne regrette rien" treibt unbeirrbar durch den Hagel aus Brandsätzen, Tränengas und geballter Wut. Das ist fies, das ist mutig, das ist tränentreibend zynisch, das ist genial. Ein grandioser Abschluß eines melancholischen, stichelnden und bei aller emotionalen Restriktion doch betörenden und wahrlich berückenden (Kino-)Traums.
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.