Originaltitel: LA PAZZA GIOIA
I/F 2016, 116 min
FSK 12
Verleih: Neue Visionen
Genre: Tragikomödie, Roadmovie
Darsteller: Valeria Bruni Tedeschi, Micaela Ramazzotti, Valentina Carnelutti, Tommaso Ragno, Bob Messini
Regie: Paolo Virzì
Kinostart: 29.12.16
Man kennt sich schon: Unter Paolo Virzis Regie brillierte Valeria Bruni Tedeschi in DIE SÜSSE GIER, Micaela Ramazzotti arbeitete zum Beispiel bei DAS GANZE LEBEN LIEGT VOR DIR von ihm angeleitet. Offenbar mochte man sich gern und fand daher jetzt zum Dreier zusammen. So was läuft ja nicht immer gut, hier aber ist er ein Glücksfall!
Bruni Tedeschi eröffnet, spielt Gräfin Beatrice, flaniert mondän mit Sonnenschirm durch die Landschaft, erteilt Anweisungen, läßt sich manchmal zu einem kleinen Lob hinreißen. Und scheitert beim Versuch, aus der luxuriösen Villa zu fliehen – selbige beherbergt tatsächlich eine psychiatrische Anstalt und eben auch Insassin Beatrice. Bipolare Störung, sagen die Ärzte. Mieses Komplott, zetert die ohne Atempause Textende und bedroht nachts telefonisch den für ihre Einweisung zuständigen Richter. Jene Ausgangslage malt Virzi in schwungvollen Pinselstrichen auf die Leinwand, höchstmöglicher Respekt inklusive. Weswegen selbst die „gehirnamputierte Moira“ der Komödie nicht als hämisch zerlegtes Kanonenfutter dient, der Witz sich nie entäußert und schadenfreudige Finger gegen das geistig unterschiedlich beeinträchtigte Umfeld erhebt. Rasante Lustigkeit – bis Ramazzotti alias Donatella eingeliefert wird, ein mageres Ding, tätowiert, medikamentös abgefüllt, suizidal. Von den Mühlen der Obrigkeit, welche ihr gar ein Foto des Sohnes verweigert, halb zermahlen.
Zwei in der Titulierung „irre“ geeinte, sonst jedoch konfliktreich konträre Charaktere prallen ungebremst aufeinander, zwei formidable Darstellerinnen loten komplexe Wesen aus, laden ein hinzusehen, Details zu beachten, Blicke zu interpretieren, Nebensätzen Gehör zu schenken. Daß sich die beiden zwangsvereinten Amazonen schließlich annähern, ist ungeschriebenes Filmgesetz, wie sie ausbrechen, schlicht hinreißend und außerdem der Beginn einer überschwenglich lebensfreudigen Odyssee. In deren Verlauf möchte Beatrice, die sich angstfrei volksnah gebende Adlige, eine „wunderbare“, wegen dunkler Hautfarbe automatisch als arbeitslos vermutete Familie streicheln, sukzessive stellt sich uns ein Beachtung verdienender Persönlichkeitsmix aus hysterischer Zicke, Snob, Furie, unsicherem Kind, Lehrerin, unwillentlicher Rassistin vor. Sie sucht ein Spa, Donatella hingegen Seelenfrieden, der dramatische Unterbau des Geschehens wird offenbarer. Wie eine krasse Szene zeigt, hat die junge Frau einen schrecklichen, verzweifelten Fehler begangen. Doch darf der Staat sie deswegen entmündigen?
Virzi frönt da nun seiner Lieblingsbeschäftigung, namentlich: der (nicht nur) italienischen Gesellschaft in die Seiten hauen, beim Stellen unangenehmer Fragen unschuldig grinsen, nachbohren, direktemang hin zum getroffenen Nerv. Und dann zuzwacken, bis mindestens einer schreit. Aber halt – diesmal stoppt Virzi vorher, er scheint gemäßigter, liebt diese scharfkantigen Unnahbaren, will fast märchenhaft das Beste für sie, spendiert Beatrice eine tolle Antwort auf „Seid Ihr verrückt?!“ und Donatella Erlösung. Nachdem sie über ihre verkorkste Existenz berichtete, damit Beatrice zum Schweigen (!) und Weinen brachte, dann von der Neufreundin ein Wunder gewirkt bekam.
Ungeachtet jeder trubeligen Turbulenz zum Trotz werden so die Geschichten zweier Getriebener erzählt – und endlich wechselseitig gehört. Weswegen Virzi und sein bezauberndes Duo am Ende, wenn sich gleichzeitig nichts und alles änderte, keine weiteren Worte brauchen. Es genügen einander findende Augenpaare, schüchterne Lächeln. Verrückt, was?!
[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...