Der Einstieg ist ein Vorführszenarium, ein maskiertes Paradehalten. Fast fühlt man sich an Schnitzlers "Traumnovelle" erinnert. Doch schnell wird klar, daß es sich hier keinesfalls um schwüle Verklemmungen dreht, ein kompaktes Schicksalsmosaik - dann doch wie bei Schnitzler - über die gesellschaftliche Verkommenheit nimmt seinen Lauf. Tornatore, dieser eigenwillige Romancier des italienischen Kinos, erzählt die Geschichte der Irena, die Geschichte der Gloria. Immer wieder fragt man sich: was will diese Frau, was tut sie als nächstes? Die Frage danach, die Tornatore ja bereits im Titel impliziert, wer diese Frau wirklich ist, traut man sich kaum zu stellen, aus Respekt zu diesem dicht gewobenen, komplex strukturierten, gänzlich ungewöhnlichen Film, der zudem ein durch Ennio Morricone wunderbar orchestrierter ist.
Jene Irena, in den Rückblenden aufreizend blond, huscht nun unauffällig brünett durch eine Stadt, ihr Italienisch hält durch kleine Ausbrüche im Akzent nicht als ihre Muttersprache stand, sie sucht Unterschlupf, Arbeit, sie sucht nach einer Normalität, um den Anlaß ihrer Ankunft zu kaschieren. Wir erfahren Stück um Stück mehr von dieser rätselhaften Frau, die - das wird aus dem guten Grund der Erträglichkeit in schnell geschnittenen Rückblenden erzählt - in der Ukraine als Sexsklavin für jede undenkbare Perversion herhalten mußte, die sich Gloria nannte und in diesem früheren Leben im Dunkelziffermilieu des Säuglingshandels eine sehr junge Gebärmaschine war. Irenas Vergangenheit holt sie immer wieder ein, in Panikattacken, in echten Bedrohungen. Ihr stehen die Spuren einer Mörderin aus Verzweiflung im Gesicht geschrieben. Angst kommt dazu, als sie einem vermeintlich Toten, ihrem ultrabrutalen Zuhälter, plötzlich gegenübersteht ...
Guiseppe Tornatore hat einen geradezu magischen Thriller gedreht, ein fesselndes Porträt einer zerstörten, noch immer kampfbereiten Frau, ein düsterer Reigen über Würde, Wut und gestohlenes Leben. Der intelligente Schnitt, eine berückende Hauptdarstellerin und dieses häppchenweise Erzählen erzeugen enorme Spannung. Für "Ruhe" hingegen sorgen lichtdurchflutete, verwaschene Rückblenden, die auch den Mann zeigen, den Irina einst liebte, der sie aus dem "ganzen Scheiß rausholen" wollte, den sie schließlich unter Müll begraben finden wird. In diesem Moment ist aus dem einst sorglos über törichte Männer lachenden Mädchen bereits die vernarbte Frau geworden.
Originaltitel: LA SCONOSCIUTA
I 2006, 120 min
Verleih: Senator
Genre: Drama
Darsteller: Xenia Rappoport, Michele Placido, Margherita Buy, Angela Molina
Regie: Giuseppe Tornatore
Kinostart: 22.05.08
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.