Originaltitel: KAIBUTSU
J 2023, 127 min
FSK 12
Verleih: Wild Bunch
Genre: Drama
Darsteller: Sakura Ando, Eita Nagayama, Soya Kurokawa, Hinata Hiiragi, Yuko Tanaka
Regie: Hirokazu Kore-eda
Kinostart: 21.03.24
Zunächst mutet es an wie eine japanische Version von DAS LEHRERZIMMER. Wer hat wem etwas angetan? Wer hat überhaupt etwas getan? Wer lügt? Überschritten Lehrer Kompetenzen? Nach zwei Stunden, ganz am Ende, ist man klüger, wurde von drei Erzählperspektiven dort hingeführt, findet einigermaßen sichere Antworten, wo sich zuvor nur einzelne Handlungselemente nach Berührungen und Wiederholungen elegant miteinander verschränkten. Dann ist auch klar: DIE UNSCHULD ist das nächste meisterliche Kinostück von Menschenkenner Hirokazu Kore-eda. Und obwohl er die Menschen kennt, ist er deren Freund.
Es ist nicht Tokio, es ist eine Stadt eher kleinerer Statur. Ein Hochhaus brennt des Nachts, im Erdgeschoß befindet sich ein zwielichtiger Club, in dem auch der junge Lehrer Hori verkehren soll. Es ist eine erste Mutmaßung, die Witwe Saori dennoch nicht aus dem Hinterkopf bekommt. Erst recht, weil Hori ihren Sohn Minato unterrichtet, und der benimmt sich arg komisch zuletzt und erzählt auch noch von verbalem Mobbing in der 5B und körperlichen Übergriffen Horis. Saori fordert in der Schule zunächst Aufklärung und später das gesamte Kollegium heraus. Bis ein Wirbelsturm aufzieht und Minato verschwindet.
Die Handlung wechselt auf Lehrer Hori und dessen Draufsicht, um schließlich im längsten Teil von DIE UNSCHULD Minato und dessen Freund Yori zu umkreisen. Erst hier werden sich die komplexen, multispektral angeleuchteten Ereignisse mit extremen Emotionen und behutsamen Erklärungen verdichten, mit wilden Verwirbelungen von Kindern, denen Halt gebende Erwachsene abhanden gekommen sind, und sei es nur gefühlt. Die im Abstoßen und Anziehen nur sich selbst als Kompaß haben und massiv mit sozial-gesellschaftlichen Umständen kollidieren.
Für Kore-eda geht es nach seinen Leuchtturm-Filmen NOBODY KNOWS, SHOPLIFTERS und BROKER also erneut behutsam changierend zwischen Psychothriller und Alltagsdrama weiter. Dafür hat er mit seinem Ko-Autor Yûji Sakamoto die „Atmung synchronisiert“ – was für eine schöne Umschreibung für Arbeit! Noch ein zweites erstes Mal ist für den Regisseur von signifikanter Bedeutung: die Zusammenarbeit mit Komponist Ryuichi Sakamoto. Er schrieb die letzte Filmmusik vor seinem Tod, Ende März 2023. Hätte er abgesagt, so Kore-eda, hätte der Regisseur den kompletten Film neu denken müssen. Nicht auszudenken!
[ Andreas Körner ]