Olivier Assayas neigt zu epischen Erzählungen. CARLOS – DER SCHAKAL, sein viel gefeierter Vorgängerfilm, schaffte es auf eine Kurzfassung fürs Kino von 140 Minuten. Jetzt arrangiert der französische Regisseur ein unverhohlen autobiographisches Werk, welches er in immerhin 122 Minuten präsentiert. Warum ist die Länge eines Films so wichtig? Es ist die Zeit, die es zu erzählen gilt, und es ist auch die Erzählzeit des Films, die das Gefühl des Betrachters in seiner Wahrnehmung steuert, gerade bei diesem Sujet.
Hätte Assayas seine wilde Zeit der nachrevolutionären Jahre, in den 70ern in Paris, auf eine Länge von 90 Minuten geschnitten, dann wäre dieser Film tatsächlich wild geraten. Er wäre überbordend von politisierten jungen Menschen, die sich noch positionieren wollen, die den Angriff wagen, wenn auch im Kleinen, während die, die es ernst meinten, mit der Revolution langsam in den Terrorismus abglitten. Da wäre der Anspruch auf freie Liebe, Musik, Party und Drogen – eine Tour de Force der Lebensfreude und des Aufbruchs.
Aber da ist Gilles, Alter Ego des Regisseurs, jung, kreativ, ein wenig schluffig und romantisch verliebt. Dieser befindet sich in dem Strudel, der ihn mitreißt und begeistert. Es bricht aber immer wieder das „reale“ Leben über ihn herein, seine bürgerliche Herkunft, die ihn inne- halten läßt, die ihn, wenn man so will, am Ende passiv macht. Oder vor dem Absturz rettet – das liegt im Auge des Betrachters. Assayas erzählt entschleunigt, damit sich der Zufall in Gilles Leben auf der Leinwand entfalten kann. Frauen weisen seinen Weg. Mal Laure, die alles oder nichts will, aber vor allem Selbsterkenntnis mit Haut und Haaren, dann Christine, die ihn nach Italien schleppt, um sich einem Agitprop-Filmkollektiv anzuschließen.
Am Ende ist Gilles immer zu sehr Individualist, um sich ideologisch festlegen zu wollen, landet am Ende sogar in der Firma seines Vaters, der Fernsehfilme produziert. Man spürt, wie seine Vehemenz schwindet, fühlt sich plötzlich in die heutige Zeit versetzt: diese ätherischen Mädchen unterwegs in den Hippiegewändern, die Jungs mit den Wallebärten und diesen Brillen. Klingt nicht die Musik wahnsinnig vertraut – und dann die Grafiken der Poster und die Plattencover? Alles hip heute. Assayas hat den Kreislauf des Scheiterns einer linken Revolution in dem Moment festgehalten, in dem sie von einer realen Möglichkeit in ein ästhetisches Ideal überging. Und das mit den schönsten Bildern und Menschen, die er heute finden konnte.
Originaltitel: APRÈS MAI
F 2012, 122 min
FSK 12
Verleih: NFP
Genre: Drama, Historie
Darsteller: Clément Métayer, Lola Créton, Félix Armand, Carole Combes
Regie: Olivier Assayas
Kinostart: 30.05.13
[ Susanne Schulz ]