Gerda Tuchler ist gestorben, uralt ist sie geworden. Zurück läßt sie ein Eiland des Berlins, das sie zurückließ, als sie 1935 mit Ihrem Mann Kurt Tuchler nach Israel emigrierte. Enkel und Filmemacher Arnon Goldfinger streift durch die Wohnung in Tel Aviv. Die Besichtigung der Hinterlassenschaft hat begonnen. Kisten mit unzähligen eleganten Handschuhen werden geöffnet, die gesamte Bibliothek in altdeutscher Schrift für wertlos erklärt – „Goethe, das liest keiner mehr!“ Fuchspelze werden belacht und mit spitzen Fingern entsorgt. Fast wären auch alle Briefe und Aufzeichnungen in den Müllsäcken gelandet.
Aber es gibt Arnon, den Einen. Einen muß es ja geben, der sich erinnern will. Denn kann es sein, daß eine vielköpfige Familie so fast gar nichts weiß von Kurt und Gerda Tuchler, ihren Großeltern? Hannah, die Mutter des Regisseurs, hat ihren Sohn zu einem Leben im Jetzt erzogen, ihr liegt sentimentales Zurückblicken fern. Die Momente, die Goldfinger im Dialog mit ihr einfängt, gehören zu den aufschlußreichsten des Films, weil spürbar wird, wie schwierig es ist, sich das Fragen zu trauen. Als ein Artikel über die „Reise des Nazis nach Palästina“ im Nachlaß auftaucht, wird Goldfingers Recherche dringlicher. Leopold von Mildenstein, damals SS-Unterscharführer, war 1933 nach Palästina gereist, in Begleitung seiner Frau und des Ehepaares Tuchler. Für eine gewisse Zeit hatten Zionisten und Nationalsozialisten das gleiche Ziel verfolgt: die Juden nach Israel zu bringen. Mildenstein war nicht irgendwer, er wurde der Vorgänger Eichmanns, als Leiter des Judenreferats. Wie war es möglich, daß sich die Tuchlers und die von Mildensteins so gut verstanden? Wie konnte diese Freundschaft sogar nach dem Krieg fortbestehen? Das Ganze wird noch unverständlicher, als Goldfinger ein weiteres traumatisches Familiengeheimnis lüftet.
Ab diesem Punkt wird die Vorgehensweise des Regisseurs zur eigentlichen Aussage des Films: Er versucht sich mutig im Aufdecken der „Wahrheit“, geht auf die Reise, um von Mildensteins Tochter zu treffen. Er konfrontiert sich und seine Mutter mit Erinnerungsorten. In Berlin laufen sie durch die Straßen, die für ihre Verwandten noch mehr waren: ihr Leben. Goldfinger schont seine Gesprächspartner, vermeidet höflich Konfrontation, schweigt nachsichtig Verdrängung aus. Er versucht den Spagat zwischen Filmemacher, Sohn und Jude. Es kann ihm nicht gelingen, und darin liegt die emotionale Stärke des Filmes.
Originaltitel: HADIRA
D/Israel 2011, 97 min
FSK 0
Verleih: Salzgeber
Genre: Dokumentation, Familiensaga
Regie: Arnon Goldfinger
Kinostart: 14.06.12
[ Susanne Schulz ]