Wer sich im Berliner Adlon Hotel zwischen die blütenweißen Laken kuschelt, ahnt nicht, daß die noble Tuchware erst wenige Stunden zuvor im 150 Kilometer entfernten polnischen Städtchen Gryfino durch die Mangel gedreht wurde. Fast alle Berliner Nobelhotels lassen ihre Wäsche in der dortigen Wäscherei Fliegel direkt hinter der polnischen Grenze reinigen.
Hans-Christian Schmid hat nach vielen ausgezeichneten Spielfilmen endlich wieder einen Dokumentarfilm gedreht, der das inzwischen sattsam bekannte Phänomen der globalen Jobmigration thematisiert. Indem Schmid unser Nachbarland Polen in den Fokus stellt und eben nicht die Zustände im fernen Indien, China oder Vietnam, gelingt ihm tatsächlich ein neuer Blickwinkel. Polen ist Deutschland nicht nur geographisch nahe, auch der Lebensstil hat sich in den letzten Jahren angeglichen. Die Träume der Menschen diesseits und jenseits der Grenze sind sich sehr ähnlich, die Leute wünschen sich „ein ganz normales Leben, Haus, Familie, Arbeit“ und wollen ihren Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen, „ ...damit sie es später mal besser haben.“ Doch anders als in Deutschland gibt es kaum staatliche Sozialleistungen, und die Arbeitslosigkeit ist so hoch, daß viele für 1500 Zloty monatlich, das sind knapp 350 Euro, im Schichtdienst arbeiten, Tag und Nacht, sieben Tage die Woche. Der deutsche Geschäftsführer argumentiert, dieser Verdienst liege doch weit über dem polnischen Durchschnitt. Und damit hätten alle was von diesem Deal, oder?
Die Arbeiterinnen im Film betonen zwar, wie froh sie über ihre Jobs sind, aber Schmids genauen, kommentarlosen Bildern sieht man an, daß sie einen hohen Preis bezahlen. Sie haben zwar Arbeit, um zu überleben, aber kaum noch Zeit zum Leben. Ihre Kinder sehen sie nur zwischen Tür und Angel. Viele Familien brechen auseinander. Die legendäre Gewerkschaft Solidarnosc residiert abgelegen in einem kleinen Container und hütet sich vor Kritik. Denn Kritik gefährdet die Jobs. Ein Teufelskreis, der auch hierzulande nicht unbekannt ist. Schmids unaufgeregter und sehr sehenswerter Film zeigt, daß mit der Globalisierung vor allem der Druck auf die schwächsten Glieder der Kette steigt. Das gilt in Polen und Indien genauso wie in Deutschland.
Nachtrag: Inzwischen verdienen die LKW-Fahrer in Fliegels Leipziger Dependance sogar weniger als ihre polnischen Kollegen.
D 2009, 93 min
Verleih: Piffl
Genre: Dokumentation
Stab:
Regie: Hans-Christian Schmid
Drehbuch: Hans-Christian Schmid
Kinostart: 14.05.09
[ Luc-Carolin Ziemann ] Carolin hat ein großes Faible für Dokumentarfilme, liebt aber auch gut gespielte, untergründige Independents und ins Surreale tendierende Geschichten, Kurzfilme und intensive Kammerspiele. Schwer haben es historische Kostümschinken, Actionfilme, Thriller und Liebeskomödien ... aber einen Versuch ist ihr (fast) jeder Film wert.