Dr. Ketel ist der moderne Robin Hood aus Neukölln. Er gibt den Armen keine Waffen, sondern Medikamente. Viele Menschen können sich medizinische Versorgung in der Welt von morgen, die Linus de Paoli in diesem Film erschafft, nicht mehr leisten. Also behandelt der riesige Mann mit den breiten Schultern nicht nur entzündete Beine und kranke Bäuche, er bringt auch Kinder zur Welt. Dafür klaut er Pillen und Injektionslösungen aus Apotheken und Krankenhäusern.
Es ist keine gute Vision, die DFFB-Absolvent Linus de Paoli von unserer Zukunft hat. In schweren Schwarz-Weiß-Bildern zeichnet er eine Dystopie, die Demontage des sozialen Systems. Von dieser verwahrlosten Welt aber bekommen wir außer einigen Patienten in verdreckten Hinterhöfen und Fernsehdurchsagen über das bröckelnde Gesundheitssystem nicht viel mit. Vielmehr folgen wir dem wortkargen Dr. Ketel, wie er stoisch das tut, was er tun muß. Gefühle sind ihm fern, nur kurz ploppt eine Idee von Nähe auf, als er die schöne Apothekerin kennenlernt.
Im Kino haben Zukunftsvisionen immer etwas mit Krieg, Krankheit oder Naturgewalt zu tun. Während Blockbuster von Monstern und Fluten träumen, hangelt sich der deutsche Film an Anarchie und Zivilisationsverlust entlang. In DIE KOMMENDEN TAGE aus dem Jahr 2010 spielen August Diehl und Daniel Brühl zwei Männer, die ihre eigenen Regeln in einer verrohten Welt aufstellen. Auch Dr. Ketel handelt nach eigenen Gesetzen, nur wirkt er in seiner Filzkutte und seinem antiken Arztkoffer, mit dem er nachts durch die Straßen von Berlin huscht, eher wie Dr. Jekyll im London des 19. Jahrhunderts.
Übertrieben wirkt auch die dramaturgische Wendung in der zweiten Hälfte des Films, die die Geschichte in die Unglaubwürdigkeit treibt. Ketel, der mittlerweile ein gesuchter Mann ist, trifft auf die esoterische Chefin einer Sicherheitsfirma, gespielt von der US-Schauspielerin Amanda Plummer, die gerade eine Reise zu sich selbst hinter sich hat. An der Stelle driftet der Film vom Sozialdrama in eine Selbstfindungsstory. Hatte man doch gehofft, der Held würde nicht aus Selbstnutz, sondern im Sinne einer gesellschaftlichen Notwendigkeit handeln.
Am Ende bleibt Dr. Ketel der, der er immer war, genauso steht es um die Welt, in der er lebt. Vielleicht ist es zu naiv, Zukunft positiv zu imaginieren, Erkenntnis bringt die Zustandsbeschreibung dieser Ausweglosigkeit allerdings nicht.
D 2011, 80 min
FSK 12
Verleih: DFFA
Genre: Science Fiction, Drama
Darsteller: Ketel Weber, Amanda Plummer, Burak Yigit, Pit Bukowski, Lou Castel, Hermann Beyer
Regie: Linus de Paoli
Kinostart: 12.09.13
[ Claudia Euen ]