Das spärliche Restlicht kämpft sich mutlos durch die bläuliche Nacht. Eine Nacht, in der Anne ihren betrunkenen Ex-Mann aufliest. Eine Nacht, welche Annes verwirrte Mutter nicht überleben wird. Mit der Mama geht für die Frau mittleren Alters jede Bindung verloren – die Kinder, längst aus dem Haus, haben sowieso zu wenig Zeit, Freunde existieren keine.
Da kommt das Angebot gerade recht, nach Paris zu gehen, um dort eine alte Dame zu betreuen. Anne wagt diesen Schritt, aber besagte Seniorin namens Frida verweigert jede Hilfe, ist störrisch, dominant, fast bösartig. Sie erwartet nichts mehr vom Leben, hat schon einen Selbstmordversuch verübt, wünscht sich allein die Aufmerksamkeit von Stéphane. Er, viel jünger, war einst Fridas Liebhaber. Anne muß den Kampf aufnehmen – um Fridas Respekt und gegen die eigenen Dämonen.
Zur Klarstellung, warum man sich diesen Film nun anschauen sollte, genügt ein Name: Jeanne Moreau. Über acht Dezennien Lebensweisheit und fast 65 Jahren Schauspielerfahrung obliegt es, aus der nominellen Furie Frida einen komplexen Charakter zu formen – was Moreau erwartungsgemäß souverän gelingt. Zwischen Mütterlichkeit und Kälte, Todessehnsucht und Lebensgier, nie verflogenem erotischen Interesse und Eingeständnis des welken Fleisches bewegt sich diese Frida, mordet mit Blicken und schmilzt förmlich dahin, kann an der eigenen Vergangenheit leiden oder ihrem Umfeld die Gegenwart zum Spießrutenlauf machen. Das Ganze getaucht in farbreduzierte Bilder und manchmal irritierend abrupte Gefühlswechsel, umkreist von Annes Augenringen, welche täglich dunkler zu werden scheinen.
Regisseur Ilmar Raag läßt dort reden, wo es nötig ist, kann aber ebenso wohltuend schweigen. Das wirklich Heftige an jenem Dreiecksverhältnis allerdings schwebt wie ein Damoklesschwert über der gesamten Laufzeit, hängt allen Personen nach. Es ist das kaum eingestandene Ahnen: Fridas Tod wäre eine Erleichterung, Befreiung, ein Segen. Solche harte Rationalität fährt in die Magengrube, verformt den generell versöhnlichen Ton zum dissonanten Schmerz und bleibt im inneren Ohr hängen. Schade bloß, daß die spröde Emotionalität, an der man sich durchaus auch mal kleinere Gedankensplitter einziehen konnte, am Ende trotz interessanter Ansätze in Sachen Reue, Aufbruch und Loslassen letztlich dann doch zur schmusigen Gefühlswolle umgestrickt wird.
Originaltitel: UNE ESTONIENNE À PARIS
F/Belgien/Estland 2012, 94 min
FSK 0
Verleih: Arsenal
Genre: Drama, Schicksal
Darsteller: Jeanne Moreau, Laine Mägi
Regie: Ilmar Raag
Kinostart: 18.04.13
[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...