Originaltitel: BEDOONE TARIKH, BEDOONE EMZA
Iran 2017, 103 min
FSK 12
Verleih: Farbfilm
Genre: Drama
Darsteller: Navid Mohammadzadeh, Amir Aghaee, Zakieh Behbahani
Regie: Vahid Jalilvand
Kinostart: 20.06.19
Es geschieht so furchtbar schnell und beiläufig: Als der Gerichtsmediziner Kaveh spätabends von der Arbeit mit seinem Auto nach Hause fährt, wird er von einem nervigen Drängler geschnitten. Kaveh verliert für den Bruchteil einer Sekunde die Kontrolle über seinen Wagen oder auch nur den Überblick über den Verkehr auf der stark befahrenen Ausfallstraße. Dieser Sekundenbruchteil reicht, um einen mit einer vierköpfigen Familie besetzten Motorroller zu rammen. Kaveh stoppt sofort, eilt zu Hilfe.
Verletzt scheint niemand, nur der 8jährige Amir klagt über ein wenig Schwindelgefühl. Kavehs Angebot, Amir ins Krankenhaus zu fahren, lehnt dessen Vater Moosa ab. Auch für den Schaden am Motorroller nimmt er das Geld nur widerwillig. Man trennt sich wieder, verliert sich im strömenden Verkehr.
Eine Exposition am abendlich dunklen Straßenrand. Nur eine Episode, an der der Verkehr vorbeiflutet – und die alles schon skizziert. Charaktere, Konstellationen, Tonfall. Alles wirkt wie eine beiläufig in Szene gesetzte Beobachtung und ist zugleich ausgesprochen konzentriert und authentisch ausgebreitet. Wird sich auch nicht ändern, wenn Regisseur Vahid
Jalilvand wenig später die große dramatische Fallhöhe seines Films offeriert und dabei die Frage der Moral genauso inszeniert wie diese Episode am Straßenrand, die ihr Auslöser ist. Denn natürlich wird Kaveh der Familie wiederbegegnen. Und das gleich am nächsten Tag. Der kleine Amir ist da schon tot und liegt bei Kavehs Kollegin Dr. Sayeh zur Obduktion bereit. Die allerdings diagnostiziert als Todesursache dann eine Lebensmittelvergiftung. Womit sich Kavehs geplagtes Gewissen eigentlich beruhigen sollte.
Nur läßt der genau das nicht zu. Und wo sich Amirs Vater Moosa auf die Suche nach dem Mann begibt, der ihm das verdorbene Fleisch verkaufte, an dem Amir starb, macht Kaveh sich seinerseits auf die Suche nach einer Möglichkeit, vielleicht doch Schuld am Tod dieses Kindes zu haben. Oder gar haben zu dürfen? Doch – genau so muß man das fragen! Liegt doch hier das Geheimnis, die dunkle Antriebsstelle dieses Films. Denn wo auf der einen Seite Moosa ein Mann ist, der büßen muß, weil er einen Fehler beging, Schuld auf sich lud (dieses verdächtig billige Fleisch zu kaufen), ist auf der anderen Seite dieser Kaveh in all seiner Korrektheit und auch Freundlichkeit ein Mann, den ein unergründliches Bedürfnis nach Schuld, nach Schuldigkeit, anzutreiben scheint. Der, anders formuliert, seine (scheinbare?) Schuldlosigkeit nicht ertragen kann, während Moosa an seiner Schuld zu zerbrechen droht.
EINE MORALISCHE ENTSCHEIDUNG ist ein Film, der die emotionalen und rationalen Faktoren ethischer Kosten-Nutzen-Rechnung gekonnt auf die Goldwaage einer Geschichte legt, in der in moralischer Hinsicht nichts mehr wirklich meßbar scheint. Unter der Nüchternheit der Inszenierung arbeitet dabei zugleich etwas nachgerade Gespenstisches, in der Konkretheit des Erzählens funkelt etwas Nicht-Greifbares.
Und bleibt der mal müde, mal verächtliche, mal fragend insistierende Blick haften, den hier die Frauen immer wieder auf diese Männer richten. Nicht umsonst gehören Dr. Sayeh die letzte Einstellung und der letzte Satz in diesem Film, der einmal mehr, und das fast beiläufig, auch ein Zeugnis der hohen Qualität des iranischen Kinos ablegt.
[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.