Wie erzählt man von ganz und gar verschlossenen Menschen, die eine verborgene Welt in sich tragen? Es ist ein Drahtseilakt, aber Claudia Llosa, die Nichte des Schriftstellers Mario Varga Llosa, balanciert behutsam und trittsicher über das Seil, das sie zwischen den Polen der ethnographischen Beobachtung und der Beschreibung eines Seelenlebens aufgespannt hat. Wie in MADEINUSA führt sie uns im Berlinale-Gewinnerfilm in die peruanischen Anden, dort wo die Reste indianischer Kultur auf die sogenannte Zivilisation treffen. Diesmal haben die Leute ihre Dörfer schon verlassen, wohnen am Rande der großen Stadt Lima, in staubigen Ghettos, an karge Bergkuppen geklatscht, zu denen labyrinthische Treppen hinaufführen. Llosas Stärke ist, daß sie den Symbolcharakter herausarbeitet und uns sozusagen ein zweites Mal über diese Stufen schickt, die nun in eine andere Ebene des Bildes führen, ins Zentrum eines Traumas.
Auf ganz direkte Weise offenbart sich Faustas Innenwelt eigentlich nur durch ihre Gesänge: Improvisierte Lieder auf Quechua, in denen das ansonsten fast völlig verstummte Mädchen alles aussprechen kann, auch das Schlimmste. So hielt es schon die Mutter, um von den Vergewaltigungen in ihrem Dorf zu sprechen. Die Tochter singt nun gegen ihre Lebensangst, die TETA ASUSTADA an: Das Leid, das sie nach folkloristischer Vorstellung durch die Muttermilch aufgesogen hat. Sie schützt sich durch eine Kartoffel in der Vagina, die dort ihre Wurzeln treibt.
Von dieser Verstopfung gilt es sich zu befreien. Und Llosa wählt als Anlaß dafür ein Begräbnis. Fausta muß ihre Mutter, die halb einbalsamiert mal auf, mal unter einem Tisch im Wohnzimmer des Onkels liegt, in ihrem Heimatdorf begraben, noch ehe ihre Cousine heiratet.
Auf den staubigen Hügeln herrscht immerwährende, rosarote Hochzeitsstimmung. In geradezu absurden Ritualen drückt sich die Lebensfreude der Bewohner aus, aber auch ihre Entwurzelung. Im Kontrast dazu steht der umblühte und von Mauern geschützte Stadtpalast einer depressiven Starpianistin, bei der Fausta Anstellung findet. Kaum läßt sich eine Annäherung zwischen den Frauen beobachten, und doch, daß Fausta ihre Lieder gegen Perlen tauscht, reicht aus.
Langsam erzählt, in poetischen Bildkompositionen, und getragen von einer geradezu mysteriösen Hauptdarstellerin, läßt der Film die Grenzen zwischen realer und surrealer Welt verschwimmen.
Originaltitel: LA TETA ASUSTADA
Spanien/Peru 2009, 94 min
Verleih: Neue Visionen
Genre: Poesie, Drama
Darsteller: Magaly Solier, Susi Sánchez
Regie: Claudia Llosa
Kinostart: 05.11.09
[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...