Originaltitel: EL CLAN
Argentinien/Spanien 2015, 108 min
FSK 16
Verleih: Prokino
Genre: Drama, Polit, Historie
Darsteller: Giullermo Francella, Peter Lanzani, Lili Popovich, Giselle Motta
Regie: Pablo Trapero
Kinostart: 03.03.16
Obwohl wir im sozialen Gefüge Europas gerade mit so vielen „eigenen“ Zahlen zu tun haben, bewegen diese „fremden“ noch immer: 30 000 Menschen sind während der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 verschwunden. Sie wurden, so weiß man längst, gefoltert und getötet. Noch heute suchen Angehörige ihre Nächsten, ganze Datenbanken sind voll mit winzigsten Details einer Hoffnung.
Fast parallel blenden jetzt zwei Werke von herausragender künstlerischer Qualität – ein Film und ein Buch, inhaltlich voneinander unabhängig und am Ende doch verwandt – auf Argentinien und diese Zeit: Pablo Traperos Drama EL CLAN und die deutsche Erstveröffentlichung des Comics „Eternauta“ von Héctor Germán Oesterheld und Francisco Solano López. Der Film verschlägt seit 2015 einem großen argentinischen und internationalen Publikum den Atem, die Graphic Novel entstand schon 1957 und wurde gleichsam millionenfach rezipiert, allerdings über Generationen hinweg. Der Film kann sich die explizite Darstellung tatsächlicher Ereignisse erlauben, das Buch hatte mutig-weitsichtig, versteckt in einem Science-Fiction-Mantel, das tausendfache Verschwinden von Männern und Frauen vorweggenommen.
Oesterheld war einer der erfolgreichsten Comic-Schöpfer und -Verleger in Argentinien, einer Hochburg des Genres. Er selbst wurde von der Junta verschleppt und getötet wie seine vier erwachsenen Töchter. Alle fünf waren im Untergrund. Nach ihrem Familienstand befragt, sagte Oesterhelds Frau Elsa in einer Vernehmung 1988: „Ich nehme an: Witwe.“ Eine Familientragödie! Und „Eternauta“ erzählt auf über 300 großformatigen Seiten von einem Mann, dem durch außerirdische Invasoren Frau und Kind verloren gehen, woraufhin er sich Widerstandskämpfern anschließt, in eine Zeitmaschine gerät und eine zehrende Suche beginnt.
Der Comic ist stark in seinem Schwarzweiß und außergewöhnlich punktiert im Text. Eigenschaften, die EL CLAN Jahrzehnte später mit den Mitteln des Kinos und einer eigenen Story adäquat aufzugreifen scheint. Regisseur Trapero transportiert die politische und private Brisanz der Handlung mit der Geste eines Thrillers, der an große Mafia-Epen erinnert und dadurch nichts, aber auch gar nichts an unerläßlicher Schärfe einbüßt. Weil er sich auf einige der grausamsten Täter fokussiert.
Es sind die Puccios. In Buenos Aires hat es sie wirklich gegeben. Kein Blinzeln stört das stechende Blau von Arquimedes Puccios Augen. Der Blick des angesehenen Bürgers und korrekten Nachbarn ist kalt und klar. Immer dann, wenn er „Operationen“ plant, Menschen entführt, sie im eigenen Haus gefangenhält, irgendwann tötet oder töten läßt und zwischendurch die Verwandten der Opfer anruft, um Lösegeld zu erpressen. Arquimedes ist kein Handlanger des Regimes, er war über lange Jahre hinweg ein Drahtzieher. Doch das Regime gibt es nicht mehr. Originalaufnahmen in Fernsehen und Radio zeigen, in Zeitsprüngen elegant wie schlüssig verwoben, daß sich Argentinien schon für den demokratischen Weg entschieden hat. Es ist 1985. Puccios Ast bricht.
Beim besten Willen: Im Kinosaal überkommt einen das kalte Schaudern über die Spezies Mensch. Wenn Puccio (unfaßbar gespielt von Giullermo Francella) seinen ältesten Sohn Alejandro, einen Rugby-Spieler der Nationalmannschaft, als willfährigen Helfer mißbraucht, den Rest seiner Familie einschüchtert oder zum Schweigen bringt. Wenn unablässig, einem bösen Automatismus gehorchend, auf verängstigt, fies oder ignorant geschaltet wird. El CLAN ist wie „Eternauta“ große, sehr große Kunst. Relevante Kunst.
[ Andreas Körner ]