Zeitzeugenberichte über den Nationalsozialismus werden – knapp 85 Jahre nach Hitlers Machtergreifung – langsam rar. Wer sich noch erinnern kann, ist inzwischen hochbetagt. Das hat die heute 95jährige Lilian Crott allerdings nicht davon abgehalten, sich für die Dreharbeiten noch einmal per Langlaufski zu der verschneiten Hütte nördlich des Polarkreises aufzumachen, in der sie 1942 ihren späteren Mann, den deutschen Soldaten Helmut, kennengelernt hat. Eine Liebe, die mitten im Zweiten Weltkrieg verpönt war. Trotzdem entschied sich die junge Norwegerin für Helmut. Damals wußte sie allerdings noch nicht, daß er kein normaler Wehrmachtssoldat war, sondern sich als Sohn einer jüdischen Mutter quasi hinter den feindlichen Linien versteckte. Nach außen hielt er bis weit über das Kriegsende hinaus die Maskerade aufrecht. Lillian gestand er sein Geheimnis allerdings noch im Krieg, nicht ohne ihr das Versprechen abzunehmen, niemandem jemals davon zu erzählen.
An dieses Versprechen hat sich Lillian gehalten – jahrzehntelang. Doch als ihre gemeinsame Tochter volljährig wurde, nahm die resolute Norwegerin die Geschichte in die eigene Hand und weihte ihre Tochter ein. Und als Helmut 2009 starb, entschieden sich Mutter und Tochter, die Geschichte nicht nur zu erzählen, sondern aufzuschreiben. Ihr Buch wurde ein Bestseller, und man wünscht auch dem Dokumentarfilm, der ganz von der beeindruckenden Präsenz seiner Protagonistin lebt, viele Zuschauer, denn er erzählt von Zivilcourage, Mut und dem Willen, in einem verbrecherischen Regime zu überleben.
Dennoch fragt man sich, wie der Imperativ des Schweigens auch Jahrzehnte nach Kriegsende noch eine Option sein könnte. Warum sich Helmut bis ins 21. Jahrhundert hinein nicht traute, Freunden oder Nachbarn seine Geschichte zu erzählen. Warum seine Tochter nach der Enthüllung eben dieser Geschichte plötzlich Scham empfand. Warum die deutsche Vergangenheitsbewältigung immer noch viele blinde Flecken hat. Allein – es gibt in diesem Film niemanden, der diese Makroperspektive eröffnet. Das ist, was die beeindruckenden Protagonistinnen betrifft, absolut in Ordnung.
Eine Erweiterung des Fokus hätte dem Film sicher nicht geschadet. Es ist ein bißchen schade, daß Regisseur Klaus Martens sich stattdessen vollkommen auf die Liebesgeschichte konzentriert. Denn auch wenn diese Geschichte ohne Zweifel erzählenswert ist, bewegt sich der Film ohne Not immer ein bißchen an der Grenze zum Kitsch.
D 2016, 90 min
FSK 0
Verleih: Real Fiction
Genre: Dokumentation
Regie: Klaus Martens
Kinostart: 09.02.17
[ Luc-Carolin Ziemann ] Carolin hat ein großes Faible für Dokumentarfilme, liebt aber auch gut gespielte, untergründige Independents und ins Surreale tendierende Geschichten, Kurzfilme und intensive Kammerspiele. Schwer haben es historische Kostümschinken, Actionfilme, Thriller und Liebeskomödien ... aber einen Versuch ist ihr (fast) jeder Film wert.