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Film Socialisme

Godards Europa-Triptychon

„Lector in Fabula“ heißt ein semiotisches Werk von Umberto Eco, in dem es um die Mitarbeit des Lesers am Text geht, auch darum, wie man beim Lesen immer einen Modellautor konstruiert. So läuft es bei Godards Filmen regelmäßig. In jedem Bilddokument und jedem Tonfetzen denkt man ihn mit. Selbst die Protagonisten scheinen seine Gedanken auszusprechen. Doch wer ist Godard? Eben: Ein Modellregisseur, der einem viel Spielraum läßt, sich seinen Film zu konstruieren, der wiederum Godard ist.

Godard erzählt allderdings nicht, sondern kollagiert. So entstehen überall offene Schnittstellen, an denen man weiterdenken darf, nicht muß. Insofern erfüllt der Film sein Thema Europa und die Demokratie bereits formal. Zumindest trifft es „Demokratie“ besser als „Sozialismus“, auch wenn der erste in den Wind gesprochene Satz des Filmes lautet: „Geld ist ein öffentliches Gut, wie Wasser.“

Und da sind wir gleich im ersten Teil dieses Triptychons. Wie in NOTRE MUSIQUE hat Godard den Film in verschiedene Teile aufgespalten, die in einem losen Zusammenhang stehen. Ein Kreuzfahrtschiff, nennen wir es Europa, durchquert das Mittelmeer. Irgendwo huscht Patti Smith mit ihrer Gitarre über das Deck, ebenso wie einige andere Protagonisten, jeder seiner eigenen Mission folgend, während das Geld immer schön zirkuliert, in den Spielkasinos und Restaurants. Es geht um einen deutschen Kriegsverbrecher, verschollenes spanisches Gold, eine Uhr, die keine Zeit mehr anzeigt. Fragmente verschiedener Erählungen in verschiedenen Sprachen, ein Abbild europäischer Geschichte, das sich aber nur noch in Gesten wiederfindet. Europa ist zerbrochen wie ein Spiegel, die Splitter liegen am Boden und müssen neu aufgehoben werden.

Das passiert ein wenig im zweiten Teil. Zwei Kinder stellen in Frankreich ihre Eltern, Tankstellenbesitzer (Tennisspielerin Cathy Tanvier als Mutter), zur Rede: über ihr Gesellschaftsverständnis. Und werden dabei belästigt von einem Filmteam. Hier blitzt viel vom oft übersehenen Godardschen Humor auf, fast klamaukartig. So in einer köstlichen Szene, in der dem kleinen Jungen die klassische Musik durch die Glieder fährt, bis er das Orchester aus dem Radio dirigiert. Aber auch menschlich blitzt es hier zwischen den gewaltigen Theoriesätzen, die man sich am liebsten notieren möchte.

Ein neues Europa präsentiert Godard freilich nicht. Das überläßt er den Tankstellenkindern und dem „Spectator in Cinema.“

Originaltitel: FILM SOCIALISME

F/CH 2010, 102 min
FSK 0
Verleih: NFP

Genre: Experimentalfilm, Episodenfilm

Darsteller: Catherine Tanvier, Christian Sinniger

Regie: Jean-Luc Godard

Kinostart: 27.10.11

[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...