Jungs wie Yehya gibt es viele: ein Messer in der Tasche, Wut im Bauch und der Traum, der größte Gangster von Neukölln zu werden. Für seine Mitschüler ist Yehya einerseits der schlaue Fuchs, der lauter Einsen schreibt, andererseits aber auch ein angsteinflößendes Alphatier des Schulhofs. Für die Behörden ist der Junge ein Loser, ein unbelehrbarer Intensivstraftäter, der den Staat immer wieder Geld kostet, und der deshalb abgeschoben werden soll. Der Journalist Christian Stahl hat wieder einen ganz anderen Eindruck: Er sieht in Yehya seinen hilfsbereiten Nachbarsjungen, aufgeweckt, höflich und gut erzogen, zumindest anfangs ...
In seinem Dokumentarfilmdebüt versucht Stahl, Yehya filmisch gerecht zu werden. Daß diese selbstgewählte Aufgabestellung mißlingt, liegt nicht an Yehya, der tatsächlich sowohl durch eine ungeheure Fähigkeit zur Selbstreflexion und ein ausgeprägtes kriminelles Ego besticht, sondern eher an der ungebrochenen Faszination, mit der der deutsche Journalist seinem Protagonisten während des fünfjährigen Drehprozesses begegnet ist. Besonders deutlich wird das durch die Schlüsselszene des Films, dem Mitschnitt eines sogenannten Gangsterlaufes durch Neukölln, bei dem bis zu 40 Jugendliche sich nach kultischen Regeln so lange jagen und verprügeln, bis nur noch einer, der Beste (eben: der Gangsterläufer) übrig geblieben ist.
Stahl hat einen dieser Läufe gefilmt und dabei seine durch die Straßen flitzenden Protagonisten mit Kameras und Mikros ausgestattet. Herausgekommen ist musikvideoartiges Material, rauh und verwackelt, mit dem Stahl seine Interviews wieder und wieder durchsetzt. Die Jugendlichen rennen und schlagen in Slowmotion aufeinander ein und werden dabei von sweeter Indie-Gitarrenmusik begleitet. Gewalt in Kitschform auf TV-Reportage-Niveau. Leider scheint dem Regisseur genau die Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Tuns zu fehlen, die seinen Protagonisten auszeichnet. Stahl möchte zwar erklärtermaßen hinter das Klischee schauen, schafft aber zu diesem Zwecke ein neues und verklärt Yehya zum ehrgeizigen Outlaw, der zumindest in der Theorie alles besser weiß als der Rest der Welt.
Die ganz naheliegende Frage, warum er dann aus dem, was er weiß, keine Schlüsse zieht, die hat Christian Stahl leider vor lauter Begeisterung gar nicht gestellt.
D 2011, 90 min
Verleih: Barnsteiner Film
Genre: Dokumentation
Regie: Christian Stahl
Kinostart: 02.02.12
[ Luc-Carolin Ziemann ] Carolin hat ein großes Faible für Dokumentarfilme, liebt aber auch gut gespielte, untergründige Independents und ins Surreale tendierende Geschichten, Kurzfilme und intensive Kammerspiele. Schwer haben es historische Kostümschinken, Actionfilme, Thriller und Liebeskomödien ... aber einen Versuch ist ihr (fast) jeder Film wert.