D 2023, 168 min
FSK 0
Verleih: Salzgeber

Genre: Dokumentation, Biographie

Regie: Volker Koepp

Kinostart: 20.07.23

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Gehen und Bleiben

Koepp bereist Johnson bereist Welt

„Gegend“ meint anderes als „Landschaft.“ Um den Unterschied zu begreifen, mit allen Sinnen, empfiehlt sich das Werk des Dokumentaristen Volker Koepp. Er ist einer der wenigen Filmemacher ostdeutscher Prägung, die mit dem Verschwinden der DDR nicht an Bedeutung verloren. Seine Land-und-Leute-Porträts bleiben, was sie vor 1990 waren, nämlich künstlerisch wie intellektuell relevant. Und zwar auch, weil sie von der Grundannahme ausgehen, daß Landschaft nie nur herumliegt und aussieht. Fleißig arbeitet sie an den Menschen, schlägt ihnen ins Gemüt und schwingt sich zur Geistesgegend auf. Trendbewußte nennen das Mindset. Koepp vermutlich nicht.

GEHEN UND BLEIBEN durchschreitet die Mentalitätsgeographie von Uwe Johnson – einem der aufregendsten literarischen Chronisten deutsch-deutscher Kriegsschuld- und Teilungsgeschichte im 20. Jahrhundert, dem weder DDR noch BRD noch USA noch England je so sehr Heimat wurden wie die Ostseeregion. Prosa, Briefe, seine Dialektfarbe geben der Begehung Klang. Im On und Off liest aus den Texten der Schauspieler Peter Kurth, der mit Johnson ein Stück Lebenslandkarte teilt. Letzteres gilt für alle, die sich hier mit Koepp zu Gesprächen am Wegesrand verabreden. Die Schriftstellerin Judith Zander etwa, oder der im Westen zu ambivalentem Kino- und Debattenruhm gelangte Hans-Jürgen Syberberg. Eine Zufallsbegegnung stiftet Sinn: Am Peene-Ufer in Anklam sitzen Punks und erkundigen sich nach dem Zweck des Drehs. Ja, es ginge auch um Natur, erläutert der Regisseur das ästhetische Programm. „Ah“, entgegnet ein Mädel, „wir sind die Natur.“ Genau! Aber zur Natur dieses Films gehört noch mehr.

Brillant fotografierte Wolkenformationen über den Wassern Pommerns und Mecklenburgs, die Wellen am Strand von Sheerness auf der Isle Of Sheppey, wo sich die Themse in die Nordsee ergießt: In einer 1977, wenige Jahre vor seinem Tod, an der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt gehaltenen Rede befürchtete Johnson, man könne ihm nachsagen, er sei „jemand, der hat es mit Flüssen.“ Auf bitter-ironische Weise nimmt Koepp ihn in diesem Dokumentaressay beim Wort – und setzt Gedanken in Gang. 1945 wurde Johnsons Geburtsort Cammin polnisch. Kamie? Pomorski liegt an der Dziwna, die in die Ostsee mündet. Von da führen feine Adernetze ans Schwarze Meer, an die Küste der Ukraine. Dort ist Krieg. Jetzt.

[ Sylvia Görke ]