Originaltitel: GRÂCE À DIEU
F 2019, 137 min
FSK 6
Verleih: Pandora
Genre: Drama
Darsteller: Melvil Poupaud, Denis Ménochet, Swann Arlaud, Éric Caravaca
Regie: François Ozon
Kinostart: 26.09.19
Nüchtern, unaufgeregt: keine Attribute, welche man spontan einem Film zuordnen würde, der Kindesmißbrauch thematisiert. Und doch wählt François Ozon solchen Ansatz, um Alexandre, François und Emmanuel Stimmen zu geben, drei Männern, einst Pfadfinder, damals Opfer des Priesters Bernard Preynat. Letzterer trotz eingestandener Übergriffe unverändert im Amt, gedeckt durch Erzbischof Philippe Barbarin.
Harter Stoff, wahre Geschichte. Ozon erzählt sie als nahezu dokumentarische Bestandsaufnahme, im berichtenden, letztlich schon kühlen Ton eines Nachrichtensprechers. Alexandre, François und Emmanuel brechen das Schweigen, gründen den Verein „La Parole Libérée“, lösen eine Lawine aus: Immer mehr Betroffene melden sich, zu lange Verschlossenes kommt hoch, im doppelten Wortsinn. Wir sehen Menschen, die Verzicht auf künstliches Licht zu Silhouetten verdunkelt, hören Abwiegelungen ignoranter Eltern, sachliche Wiedergaben zerstörerischer Taten, unglaubliche Rechtfertigungen: „Es waren andere Zeiten!“ Und Psychologin Régine Maire, ebenfalls vertuschend unterwegs, schreibt eiskalt-höfliche Mails. Ozon agiert bei alldem tunnelfern, meidet Generalverurteilung, er weiß, daß schwarze Schafe nicht ihre ganze Herde färben. Was andererseits nie zu falscher Milde entgleitet, die deutliche (und bislang unerfüllte) Erwartung manifestiert sich im Kinosaal: klare Positionierung der Kirchenoberen, Verantwortung übernehmen. Aktivität – neben ausgehöhltem Reden über Empörung, Erlösung et cetera und natürlich endlosem Beten.
Der Abspann rollt, nur Augenblicke später fängt persönliche Weiterbeschäftigung an, regelrecht eingefordert, die abschließende Frage eines kleinen Jungen, der nächsten Generation, läßt Ozon im Rahmen eines fast furchtbar schönen Bildes vorher offen stehen: „Glaubst Du noch an Gott?“ Es ist uns zugedacht, darauf eine individuelle Antwort zu finden. Genauso müssen wir mit dem Unverständnis umgehen, daß die Verjährungsfrist jetzt 30 statt 20 Jahre nach Volljährigkeit endet. Eine signifikante Dehnung, okay, aber weshalb verjährt Verkrüpplung kindlicher Seelen überhaupt?
Ja, der teils geäußerte Vorwurf besitzt wohl einige Daseinsberechtigung: Ozons Rekonstruktion umkreist ungewöhnlich weiträumig das Herz, rüttelt emotional kaum bis gar nicht auf. Dafür infiltriert sie Kopf, Magen und Knochen, pulsiert dort heiß, getrieben, konfrontativ. Ozon entfesselt die finstere, schmierige, verschlingende Macht eines Abgrunds, welcher gähnt, wie Vertreter seiner Art es nun mal tun – still, stumm, unendlich tief, ewig darauf wartend, daß jemand hineinstürzt. Oder etwas reinruft; er hält sich zur Reflexion, dem Zurückwerfen eines Echos, bereit.
Gegenüber KTO – Télévision Catholique betätigte sich Barbarin da als lauter Skandierer, wünschte dem von „schrecklichem“ Image heimgesuchten Erzbistum Lyon „ein bißchen Frieden“, sinnierte über enorm viel „liegengebliebene Arbeit“ und attestierte dem Geschehenen, „schmerzhaft für alle – nicht nur für mich, besonders für andere“ zu sein. Die Worte eines zerrissenen Seelsorgers? Oder Widerhall dekadenter Bigotterie, faulig grinsender Egozentrik, mit Füßen getretener Humanität, ergo widerwärtige Selbstentlarvung?
Ozons künstlerischer Zugewinn fußt daher im Erkennen, daß lediglich Anstöße braucht, wer eigenständige Auseinandersetzung präferiert, verordnete Gefühlswallungen flieht. Philantropische Klasse beweist er sowieso, erneut stoisch ruhig.
[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...