Noch keine Bewertung

Gespenster

Sehnen, Suchen, wie hinter Glas

Das Waisenmädchen Nina sammelt im Berliner Tiergarten Müll auf, umschwirrt von Geister- und Dienstleistungskollegen in orangefarbenen Westen. Die unstete Toni, Räuberbraut und Großstadtprinzessin in schneeweißen Jeans, hat sich hierher verirrt. Hand in Hand fliehen die beiden ins Zauberreich von H&M, wo Toni die Gefährtin das Klauen lehrt, weiter zu einer Casting-Party mit königlichem Büffet. Derweil schwebt eine französische Fee durch die Straßen, die ein Mädchen mit einer Narbe sucht und Taler (Euros) verschenkt, wenn sie die Falsche angesprochen hat.

Die grimmige Grimmsche Märchenwelt war eine von Christian Petzolds Quellen für die drei Frauenfiguren, die in seinem Film umgehen. Eine andere, an Traurigem und Gespenstischem ebenso reiche, war die gar nicht märchenhafte Wirklichkeit. Beide führt er in einem artifiziellen und doch wiedererkennbaren Film-Berlin zusammen, in dem es ganz besonders, nämlich still und poetisch spukt. Nina sucht hier Geborgenheit, die Französin Françoise ihre vor Jahren entführte Tochter, Toni den nächsten Kick und ein Casting-Team nach einer authentischen Mädchenfreundschaft. Gebrochen durch wohlkalkulierte Auslassungen, in Bildern wie hinter Glas, finden ihre Begegnungen statt - unvermittelt, rätselhaft, aber gut einsehbar. Und man wünscht, daß eine die andere Geschichte heile machen möge, eine verwaiste Mutter die Waise und zwei Liebende einander vervollständigten, daß Toni vor allem nicht mit dem schnieken Casting-Regisseur "weg zum Ficken" wäre, wie dessen Ehefrau meint.

Petzold erfüllt statt dessen andere, fast ebenso unmögliche Wünsche. Sein immer graziler Filmkosmos, dem einige den schrägen Vorwurf "französisch" machen, ist haltlos poetisch, aber nie ohne Boden. Das Flüchtige bleibt greifbar, wenn man auch diesmal selber mit anpacken muß. Denn die Figuren sind immerzu unterwegs, selbst im Stehenbleiben. Ihre Vor- und Sozialgeschichten werden nicht auserzählt, sondern mitgespielt, mitgedacht.

Und was man über Nina, eine Heimkarriere und viele Sehnsüchte wissen muß, erfährt man von der wunderbar verschwiegenen, zurückgenommenen Julia Hummer. Unter viel zu großen Pullis, dem T-Shirt-Aufdruck "120 Jahre Chiemsee-Regatta", im Schlurfen und mit hängenden Schultern gibt sie diesem Mädchen einen echten, warmen Körper.

D/F 2005, 85 min
FSK 12
Verleih: Piffl

Genre: Drama

Darsteller: Julia Hummer, Sabine Timoteo, Marianne Basler, Aurélien Recoing

Stab:
Regie: Christian Petzold
Drehbuch: Christian Petzold, Harun Farocki

Kinostart: 15.09.05

[ Sylvia Görke ]